Kaiser, König, Edelmann, Bürger, BAUR, Bettelmann: Johannes Baur, ein Österreicher aus Vorarlberg, eröffnete 1838 das heutige Mandarin Oriental Savoy in Zürich. Es ist das älteste Grandhotel an der Limmat. Hier findet am Donnerstag, 24. Oktober, der Herbst-Club-Event von Hotel Inside statt. Club-Mitglieder und Gäste werden sich fragen: Wer war dieser Johannes Baur? Hier die Antwort von Andreas Augustin, dem führenden Hotelhistoriker Europas.
Ein Hotel erzählt immer die Geschichte der Frau oder des Mannes, die oder der es gegründet hat. Das Mandarin Oriental Savoy, das ehemalige „Savoy Baur en Ville“, entsteht 1838, als Johannes Baur es als Hôtel Baur eröffnet. Es ist das älteste Grandhotel von Zürich. Wer steckt hinter der Geschichte des Hauses am Paradeplatz? Wer ist Johannes Baur, der dieses Hôtel Baur und später das Baur au Lac einem staunenden Publikum präsentiert? Im alten Abzählreim, der die Stände des Habsburgerreichs verkörpert, spielen alle Akteure im Leben von Baur eine Rolle: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, BAUR, Bettelmann.
Die Hotelhistoriker Andreas und Carola Augustin erzählen in ihrem neuen Buch MANDARIN ORIENTAL SAVOY ZÜRICH ein Stück heimische Hotelgeschichte. Für Hotel Inside packen sie die spannende Geschichte vom Aufstieg, Niedergang und schlussendlicher Rehabilitation des Johannes Baur in zwei Teile.
1. Teil
Götzis in Vorarlberg. Österreich, Habsburgermonarchie. Am Sonntag, den 13. Dezember 1795, wird hier Johannes Baur geboren. Ein Sonntagskind! Das gilt als etwas Besonderes. Von der Sonne gesegnet. Eine besondere Aura. Glück auf allen Wegen. Und so weiter. Na, mal sehen.
Der Vater ist eine bedeutende Persönlichkeit im Ort. Schatzmeister der Gemeinde und Zollbeamter. 1795. Es fällt uns schwer, uns diese Zeit vorzustellen, oder? Mozart ist gerade vier Jahre tot. Beethoven feiert Triumphe. Doch wichtiger: Die Schweiz ist noch lange nicht politisch geeint. Die Franzosen unter Napoleon sind auf dem Vormarsch. Dann walzt die französische Armee über Europa. Eine Koalition aus russisch-österreichischen Truppen versucht, die Schweiz zu befreien, Zürich zurückzuerobern. Dabei hinterlassen die Russen auf ihrem Heimweg eine Spur der Verwüstung, des Plünderns und der Brandschatzung, als 20 000 undisziplinierte Kosaken durch Vorarlberg und auch Götzis nach den brutalen Schlachten der Heimat zustreben. Daraufhin ist die Region für sechs Monate von den Franzosen besetzt.
Der Vater von Johannes Baur kommt um sein Vermögen. Der Junge muss Vieh hüten. Solche Bilder prägen. 1802 verliert Johannes seine Mutter. Der Vater erholt sich wirtschaftlich von dem Niedergang. Kämpft sich zurück. Er firmiert 1804 in der Gemeindechronik als „Zoller und Gastwirt“. Der kleine Johannes hilft im Gasthaus. 1805 stirbt der Vater. Johannes Baur ist mit 9 Jahren Vollwaise. Das „Kämpferische“ hat er von seinem Vater geerbt.
Johannes bekommt eine Stelle als Lehrling bei einem Bäcker. Als er 21 ist, kommt es zu dem Phänomen des „Jahres ohne Sommer“, im Volksmund als „Achtzehnhundertunderfroren“ bekannt. 1815 bricht der indonesische Vulkan Tambora aus. Die gigantische Aschewolke zieht sich für ein Jahr über die nördliche Halbkugel. In Europa und Amerika kommt es 1816 zu merkbarem Temperaturrückgang, Frost im Sommer, Missernten und einer großen Hungersnot.
Johannes absolviert seine Lehrzeit in Götzis. Als Geselle begibt er sich auf Wanderschaft.In der Schweiz nennt man das Bäckerknecht. Er arbeitet im Umfeld von Zürich. Er heiratet 1826, 31-jährig, die „arme, aber bildhübsche“ Anna Knechtli von Hottingen. Nun wird er Wirt und Unternehmer. Eine erste Wirtshausadresse von ihm lautet Kreuzplatz, Hottingen.
Baur wird in diversen historischen Darstellungen als der Bäckerknecht bezeichnet, der zum Pionier der modernen Hotellerie wird. Das ist schon eine verzerrte Darstellung. Auch zwischen Tellerwäscher und Millionär liegt oft ein Leben. Die Mär vom jungen Bäckergesellen, der das erste Luxushotel in Zürich eröffnet, kann man so nicht stehen lassen. Da wird nämlich gerne übersehen, dass zwischen dem Bäckerknecht (ca. 1820) und dem Luxushotel Baur (1838) 18 Jahre liegen. Genug Zeit, etwas aus sich zu machen.
Zürich um 1820 ist eine aufstrebende Handelsstadt mit gerade mal 15 000 Einwohnern. Klein, aber oho! An den Universitäten steigt der intellektuelle Anspruch. Liberales Denken ist im Vormarsch. Die Spinnwarenproduktion ist ein wichtiger Faktor, die ersten mechanischen Webereien werden installiert. Die „Seidenhöfe“ von Zürich sind weltberühmt, die Seidenindustrie ist einer der bedeutendsten Industriezweige.
In den 1820er-Jahren beginnt die industrielle Schokoladenproduktion. Um 1830 ist die Schweiz das europäische Land, das wertmäßig pro Kopf am meisten Waren exportiert. Parallel dazu expandiert das Bankenwesen. 1815 gibt es in der gesamten (heutigen) Schweiz zehn Banken, 1830 schon 74. Das Verkehrswesen erlebt mit dem Ausbau wichtiger Passstraßen eine Modernisierung. Die ersten Dampfschiffe befahren die Seen. Es entstehen die ersten Hotels, die ersten Touristen werden „gesichtet“. Genf zum Beispiel ist seit dem Ende der Napoleonischen Kriege eine begehrte Destination von Touristen. Ab 1816 belegen im Sommer tausende Engländer in und um Genf die wenigen Fremdenquartiere.
Von Hottingen zieht es die Familie Baur etwa um 1830 in die Stadt Zürich. Fest steht, dass die Baurs sich in die Zunftstrukturen von Zürich einbringen. Sie pachten ein Gasthaus in der Marktgasse 8 in der Altstadt. Vis-à-vis wird sich ein Zuckerbäcker niederlassen, David Sprüngli ist sein Name. Baurs Gasthaus „Zum Kirschbaum“ wird zu einem angesehenen Treffpunkt für Reisende und Bürger. Das nahegelegene Rathaus versorgt ihn mit hochrangigen Gästen. Mitglieder des Kaufmännischen Ausschusses verkehren ebenfalls bei ihm. So schließt er Kontakte, sammelt Informationen und gewinnt Vertrauen. Er ist jetzt schon 40 Jahre alt.
Baur erfährt als einer der Ersten vom Neubau der zentralen Poststation. Post bedeutet nicht nur Briefe senden, sondern vor allem Personen transportieren. Es gibt keinen besseren Platz in der ganzen Stadt, um ein Hotel zu eröffnen. Da kommen alle Reisenden an, von hier fahren alle weg. Ein „Posthof“ soll entstehen, mit allen logistischen Finessen einer modernen Ankunfts- und Abfahrtsstation, ein „Hub“ des Verkehrswesens.
Die neue Münsterbrücke vom Limmatkai zum Fraumünster wird gebaut, entworfen vom Südtiroler Alois Negrelli, dem späteren Planer des Suezkanals. Mit der neuen Münsterbrücke ist die Verkehrsanbindung von allen Seiten garantiert.
Von allen Seiten? Nun ja: Es existiert keine Bahnhofstraße (da es ja noch keinen Bahnhof gibt). Kein Paradeplatz. Ein Viehmarkt wird hier regelmäßig abgehalten, das Militär paradiert dort ab und zu. Dank einer zunehmenden Demokratisierung und Liberalisierung werden die alten Festungsanlagen sukzessive entfernt. Nur der Wassergraben bleibt. Dort, wo heute die Bahnhofstraße ist, verläuft der „Fröschengraben“.
Um 1830 ist der Höhepunkt des Biedermeiers: die Suche nach Ruhe, Ausgeglichenheit und der Rückzug ins Privatleben, das hübsch und zweckmäßig möbliert wird. Das reisende Bürgertum, das sich den Strapazen einer Reise stellt, erwartet angemessene Unterkünfte, wird jedoch meist enttäuscht. Die Reise mit den Postkutschen kann durchaus bequem sein, doch die Unterkünfte lassen zu wünschen übrig. Die „Posten“ durchqueren das Land. 1834 wird eine Eilpostverbindung Genf–Paris mit einer Fahrzeit von drei Tagen eingeführt. 1835 folgt die Gotthardpost Basel–Mailand, 1838 die Eilwagenkurse Genf–Fribourg –Bern–Zürich („Transhelvetica“) und Bern–Biel–Delémont–Basel („Vélocifère“).
Zürich stellt sich nicht nur verkehrstechnisch neu auf. Die Stadt wandelt sich rapide. Allein im Jahr 1836 zählt man über 500 Baustellen. Zunächst zieht die Hauptpost am 31. Oktober 1838 in das neue Zürcher Posthaus, den „Zentralhof“ an der Poststraße. Täglich rattern die Postkutschen aus allen Richtungen über die staubigen Straßen in den Hof. Hier werden die Pferde in den Ställen gewechselt, die Briefpost zur Verteilung weitergeleitet und die Passagiere aus den Kutschen empfangen. Es gibt Wartezimmer für alle Reisenden. Wer abends ankommt und auf die Weiterfahrt wartet, muss die Nacht in Zürich verbringen.
Zahlreiche Gasthöfe, wie der „Schwert“ und der „Storchen“, stehen den Reisenden zur Verfügung. Bis zu 400 Personen kommen so jede Nacht als Logisgäste in die Stadt. Dies entnehmen wir den täglichen Ankunftslisten, die im Zürcher Tagblatt ab 1837 veröffentlicht werden.
Johannes Baur freundet sich mit dem jungen aufstrebenden Architekten Daniel Pfister an. Beide träumen davon, ein Hotel zu bauen. Dazu benötigt Baur Investoren. Er wendet sich an das Kaufmännische Direktorium, eine bedeutende wirtschaftliche Organisation, die sicherstellt, dass Zürich als Handels- und Finanzzentrum wächst. So können Investoren motiviert werden. Eine Gruppe Zürcher Geschäftsleute bringt sich ein und stellt 68 000 alte Schweizer Franken als Kredit zur Verfügung. Die Summe reicht bei Weitem nicht aus. So wird auch das Basler Handelskollegium eingeladen, sich zu beteiligen. Von dort kommen nochmals 100 000 Franken. Wir können also von einer breitgefächerten Investorengruppe sprechen, ähnlich einem modernen Aktienhotel. Jedoch scheint es keine Beteiligung zu sein, da es sich um einen rückzahlbaren Kredit handelt.
Für Johannes Baur bietet sich tatsächlich ein Bauplatz beim Fraumünster an, gegenüber dem neuen Posthof. Eine Baubewilligung wird unter der Bedingung erteilt, dass das Hotel in seinem äußeren Erscheinungsbild dem Postgebäude entsprechen muss. Es soll keinesfalls höher sein und gleichzeitig mit der Eröffnung der Post fertiggestellt werden.
Das Grundstück wird dem Besitzer mühevoll abgerungen. Für 30 000 Gulden erwirbt Baur schließlich seinen Baugrund. Die Hartnäckigkeit des Vorarlbergers wird legendär. Dazu kauft Baur auch das ehemalige Pfarrhaus des Fraumünsters, das eine direkte Verbindung mit dem Münsterhof ermöglicht. Heute ist dort das Orsini, der Michelin-Sterne gekrönte älteste „Italiener“ der Stadt. So entsteht im Zentrum dieser aufstrebenden Stadt Zürich ein Gasthof (der Begriff „Hôtel“ ist nicht gebräuchlich), der sich als erstes modernes Grand Hotel von Zürich präsentiert. Heute wäre das vergleichbar mit einem Bahnhof- oder Flughafenhotel. Der Gebäudekomplex kann heute noch bewundert werden. Er heißt jetzt Zentralhof und steht gegenüber dem Mandarin Oriental Savoy Zürich in der Poststraße. Seine linke Frontfassade wird von den Säulen des Jahres 1838 getragen. Baurs Gespür für die richtige „Location“ zeigt sich.
DIE ERÖFFNUNG DES ERSTEN BAUR HOTELS
Johannes Baur eröffnet sein Hotel Baur am 24. Dezember 1838. Wir wissen nicht, wie er es gemacht hat, aber ein „Pre-Opening-Report“ erscheint schon Tage vor der Eröffnung als Aufsatz im viel gelesenen belletristischen Journal „Wanderer in der Schweiz“, der das Hotel aus erster Hand schildert. Das PR-Genie Johannes Baur vergeudet keine Zeit, diesen ausführlichen Aufsatz, in dem sein Hotel als größte Errungenschaft dieser Zeit gefeiert wird, zu publizieren. Besonders die einmalige Dachterrasse wird bejubelt. Hier ein kleiner Auszug:
„Die Krone aller dieser Säle, Zimmer, Küchen und Keller, war das herrliche Belvedere, das sich auf der Zinne des Hauses befindet und einen Spaziergang von ungefähr 300 Fuß Länge und 10 Fuß Breite enthält. Hier ist die Einrichtung getroffen, dass die Gäste in einem italienischen Garten unter Orangen und Blumen sich erholen können. Welches treffliche Rundgemälde liegt hier nicht vor den Blicken der Staunenden: über die niederen Häuser, welche den Vordergrund bilden, zeigt sich der Spiegel des herrlichen Zürcher Sees, dessen Ufer reizende Villen und Dörfer in bunter Abwechslung schmücken…“
Auch die technischen Innovationen einer Fernsprecheinrichtung und eines Speisenlifts werden bestaunt:
„Auch hier hat der Unternehmer für eine Einrichtung gesorgt, die man sonst nirgends in dieser Art findet. Es ist nämlich die Vorkehrung getroffen, dass, sobald der Gast etwas hier zu genießen wünscht, derselbe es nur einem Aufwärter (Kellner) sagen darf; dieser spricht es in eine Öffnung, durch welche es, vermittels Sprachröhren, laut in das untere Küchengeschoss tönt, wo dann der Kaffee oder was es immer sei, auf eine Maschine gestellt wird, die sich durch eine besonders dazu angebrachte Mechanik bis an den Ort ihrer Bestimmung erhebt, wo dann der Gast zugleich bedient wird…“.
Dies ist also die erste Hotelkritik im Jahre 1838, um die Weihnachtszeit. Ausschließlich männliches Dienstpersonal ist engagiert: ein Buchhalter, ein Oberkellner, 13 Unterkellner, ein Hauptportier, acht Unterportiere, drei Köche, ein Patissier, ein Confiseur, zwei Küchenjungen, zwei weitere Jungen, ein Küfermeister – der als Handwerker Holzgefäße herstellt – sowie ein Stallmeister und zwei Stallknechte, die am Ende des Hofes den Stall für 36 bis 40 Pferde und eine Remise für 15 Wagen betreuen.
Der englische Reiseführer Murray ist schnell zur Stelle. Bereits in der neuen Ausgabe 1839 schreibt er:
„Hotel Baur, a new, large, handsome, comfortable, and well-managed house, with a reading-room and a belvedere on the roof, commanding the view of the lake and Alps, situated opposite the new post office, on the bank of the Limmat. Charges as at other first class inns. Table d’hôte, at one, with wine, 3 fr.; at five, 4 fr.; in private, 6 fr. Charge for servants (boots included), 1 fr.“
Zürich hat 1838 sein erstes Grand Hotel – zu einer Zeit, als die Schweiz noch keine Eidgenossenschaft ist, China ein Kaiserreich, und Europa sich sowohl im industriellen Aufbruch als auch im politischen Umbruch befindet.
Johannes Baur und seine Frau Anna könnten sich bequem zurücklehnen. Warum der Konjunktiv? Weil sie es nicht tun. Jetzt geht’s erst so richtig los. Die Kredite müssen zurückbezahlt werden, Betriebskapital muss zur Verfügung stehen, und: „Da vorne am Zürcher See“, sagt Johannes eines Tages zu seiner Anna, „gibt es ein schönes Stück Land, das man eventuell kaufen könnte. Da könnten wir ja eine Pension errichten. Mit Blick auf den See. Was meinst Du?“
„Dass Du verrückt bist!“
2. Teil (nächste Woche auf Hotel Inside):
Vom Hôtel Baur in der Stadt geht’s „au Lac“, an den Zürcher See – Pleite und Gefängnis – Orsini treibt es zu weit – ein Krieg rettet die Familie Baur – zwei Hotels, wie zwei Geschwister – und siehe da: die kleine Schwester wird zum It-Girl.
Bildlegende Hauptfoto: Johannes Baur.