Während die Sommerreisezeit gerade auf Hochtouren läuft, ächzen viele der beliebtesten Reiseziele der Welt unter der Last des Übertourismus . In einem Interview mit zwei EHL-Forschern und Experten zu diesem Thema betrachteten wir das facettenreiche Thema Übertourismus und erörtern, wie erfahrene Reisende die Fallstricke überfüllter Hotspots vermeiden können, indem sie während der Zwischensaison reisen, vor Ort übernachten oder gleichwertige Alternativen zu ihrem Reiseziel erkunden.
Überfüllte Strände, Staus in den Strassen und lange Schlangen an Touristenattraktionen – das alles sind leider inzwischen vertraute Erfahrungen, wenn man an beliebte Orte reist.
Trotz insgesamt gestiegener Preise für Flugtickets, Hotels und Reisen, prognostiziert die Welttourismusorganisation UNWTO ein Rekordtourismusvolumen. Laut einer Studie der Beratungsfirma McKinsey geben 66 Prozent der Befragten an, dass sie jetzt mehr an Reisen interessiert seien als vor der COVID-19-Pandemie. Mit noch mehr Menschen, die die Welt bereisen, verschärft sich das Problem des Übertourismus («Overtourism») weiter. Aber wie kommt es, dass so viele Orte aus allen Nähten zu platzen scheinen und nicht darauf vorbereitet sind, mit den Scharen der Touristen umzugehen?
Übertourismus wird von mehreren Schlüsselfaktoren angetrieben. Das Hauptproblem liegt in der Diskrepanz zwischen der steigenden Nachfrage nach Reisen und der begrenzten Tourismuskapazitäten an beliebten Reisezielen.
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Tatyana Tsukanova, EHL- Research Associate
Schon vor einem Jahrzehnt hatten viele der beliebtesten Reiseziele mit Überfüllung zu kämpfen. Heute haben immer mehr Menschen die Möglichkeit, die Welt zu erkunden, und durch Technologie ist sie zugänglicher denn je.
Nicht einmal die steigende Inflation und höheren Flugticketpreise konnten den Wunsch nach Reisen in einer Welt nach der Pandemie dämpfen
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Lionel Saul, EHL – Research Assistant
Tsukanova und Saul arbeiten gemeinsam an einem strategischen Zukunftsprojekt in der Hospitality-Branche und untersuchen aktuelle Trends, wobei Übertourismus zu einem wachsenden Problem wird.
Obwohl die Nachfrage nach Reisen stark angestiegen ist, haben viele Reiseziele ihre Infrastruktur nicht an den Zustrom angepasst. «Dies führt zu einem immensen Druck auf die lokalen Ressourcen, von öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zu Abfallmanagementsystemen, was sich letztendlich auf die Lebensqualität der Bewohner und die Erfahrungen der Besucher auswirkt», erklärt Tsukanova. Die Schweizer Stadt Luzern, zum Beispiel, erlebt ein hohes Volumen an Tagestouristen, die nicht über Nacht bleiben, was zu täglichen Staus in der Stadt führt, ohne jedoch die wirtschaftlichen Vorteile zu generieren, die mit Touristen einhergehen, die längere Aufenthalte buchen.
Übertourismus ist zu einem wichtigen Grund geworden, warum Menschen die beliebtesten Reiseziele meiden. Zwar werden solche Ziele weiterhin von Reisenden profitieren, die das Ziel zum ersten Mal besuchen, aber es wird schwieriger werden, diese Besucher zu wiederkehrenden Gästen zu machen.
In einer Phocuswright-Umfrage zum nachhaltigen Tourismus wurde gefragt, warum Menschen ein Reiseziel meiden. Als Hauptgrund wurde angegeben, dass diese Orte zu voll sind. Der zweithäufigste Grund, ein Reiseziel nicht zu besuchen, ist seine Kommerzialisierung. Der dritte Grund ist, dass ein Ort zu schmutzig oder heruntergekommen ist.
(Datenquelle: Phocuswright)
Reisende äussern Bedenken, dass sich Themen wie Klimawandel und Übertourismus auf zukünftige Urlaubsreisen auswirken könnten. Besonders in Spanien, einem Land, in dem vielfach über sehr viele überfüllte Orte und Strände geklagt wird, geben 61 Prozent der Menschen an, dass sie besorgt sind. Auch in Frankreich (49 %) und Italien (46 %) sorgen sich die Menschen wegen der wachsenden Massen von Besuchern an touristischen Sehenswürdigkeiten.
Auch abgelegene Reiseziele gelangen zu viraler Beliebtheit
Soziale Medien, insbesondere Instagram und TikTok, spielen eine wichtige Rolle beim Anheizen des Übertourismus. Kultträchtige Bilder von malerischen Orten wie dem Fuji in Japan oder dem Trevi-Brunnen in Rom wecken den Wunsch, diese Orte zu besuchen, oft ohne Rücksicht auf die Folgen.
Auch weniger bekannte Orte ächzen zunehmend unter Überfüllung, wenn Social-Media-Influencer neue Orte, die abseits der ausgetretenen Pfade liegen und per se über keine touristische Infrastruktur verfügen, geo-taggen. Dieses «Instagram-Dilemma» realisierte sich in Hallstatt, einem kleinen Ort in Österreich mit etwa 800 Einwohnern, weil es mit dem Disney-Hit-Movie «Frozen» in Verbindung gebracht wurde. Allein im vergangenen Jahr zählte das Dorf rund 145.000 Übernachtungen sowie Hunderttausende von Tagestouristen.
Auf der Suche nach dem nächsten neuen Best Shot trägt die Social-Media-Kultur unbeabsichtigt zum Problem bei, indem sie bisher verborgene Geheimtipps popularisiert, die dann zum nächsten Opfer des Übertourismus werden.
Soziale Medien setzen nicht nur soziale und kulturelle Erwartungen, sondern normalisieren auch die Idee, diese überstrapazierten Orte zu besuchen. «Die Menschen fühlen sich gezwungen, ihre eigenen Fotos von ikonischen Sehenswürdigkeiten zu machen und zu teilen, was zu überfüllten Bedingungen führt, die das Erlebnis für alle schmälern», führt Tsukanova aus. «Wenn ich nach Paris reise, erwarten die Leute, dass ich ihnen ein Bild von mir vor dem Eiffelturm schicke.» Die Kultur des «Wenn du es nicht fotografiert hast, ist es dann überhaupt passiert?» ist kein Phänomen der Generation Y und der Generation Z mehr, sondern hat alle Altersgruppen erfasst. Dies zeigt auch eine aktuelle Studie von McKinsey: 34 % aller Reisenden wenden sich über soziale Medien an Freunde und Familie, wenn sie während der Reiseplanung nach Inspiration suchen.
Ein Foto mit freiem Blick auf den historischen Trevi-Brunnen in Rom ist während der Hauptreisezeit nahezu unmöglich.
Tipps zur Vermeidung überfüllter Touristenattraktionen
Obwohl Übertourismus schwer zu umgehen und abzumildern ist, bieten wir hier einige Tipps für versierte Reisende, um negative Auswirkungen und unerfreuliche Erfahrungen durch Übertourismus zu vermeiden:
Vor Ort übernachten und Tagestouristen meiden
Einige der schlimmsten Erlebnisse aufgrund von Übertourismus konzentrieren sich auf Reiseziele, die einem Zustrom aus verschiedenen Verkehrsträgern ausgesetzt sind – in der Hauptsaison und an jedem beliebigen Wochentag. Dies sind Orte, die mit Bussen, Autos, Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen und ohne Einschränkungen oder Vorschriften in Zusammenhang mit dem touristischen Zustrom erreicht werden können, wie die beliebten Reiseziele Dubrovnik, Venedig oder Mykonos. Dadurch können die Erfahrungen der Reisenden und das Leben der Einwohner an diesen Orten stark beeinträchtigt werden.
Da sich die Menschenmassen an den meisten der Sehenswürdigkeiten mit Kultstatus meist nach 17 oder 18 Uhr verlaufen, kann eine Übernachtung an diesem Ort eine gute Lösung sein, um die Besucherströme tagsüber zu vermeiden. Zudem werden Frühaufsteher oft mit nicht überfüllten und ungehinderten Ausblicken auf die wichtigsten Sehenswürdigkeiten belohnt und können ihre Fotos machen, bevor die ersten Touristengruppen ankommen.
In Luzern, zum Beispiel, können Besucher in den ruhigeren Abend- und frühen Morgenstunden die entspannte Schönheit des Vierwaldstättersees und den Charme der Altstadt erleben als auch den Blick auf weltberühmte Sehenswürdigkeiten wie die Kapellbrücke oder das Löwendenkmal ohne die tagsüber herrschende Hektik geniessen.
Auch Sintra, ein malerisches UN-Weltkulturerbe etwas nördlich von Lissabon, ist bekannt für seine atemberaubenden Paläste, üppigen Gärten und seine reiche Geschichte, und zieht eine beträchtliche Anzahl von Tagestouristen an. Diese Besucher strömen oft zu den Hauptattraktionen von Sintra, wie dem Palácio da Pena und der Quinta da Regaleira, während der Stosszeiten, was zu überfüllten Bedingungen und langen Schlangen führt. Der Zustrom von Tagestouristen kann es schwierig machen, die Schönheit und Ruhe der Stadt voll zu schätzen und zu geniessen. Für diejenigen, die über Nacht bleiben, offenbart Sintra jedoch eine andere Seite und bietet entspannte Gelegenheit seine bezaubernden Orte in den Abend- oder Morgenstunden ohne den Rummel der Menschenmassen zu geniessen und so einen einem immersiven und erholsameren Aufenthalt zu erleben.
Wenn Reisende sich für das Übernachten vor Ort anstatt für einen Tagesausflug entscheiden, können sie tiefer in die lokale Kultur und Atmosphäre eintauchen und ein entspannteres und intimeres Erlebnis geniessen. Alles in allem verteilen sich so die Ströme der Touristen gleichmässiger über den ganzen Tag hinweg und den touristischen Ort.
Reisen während der Zwischensaison
Eine Analyse von McKinsey zeigt, dass die Zwischensaison auch für nicht urbane Freizeitziele immer beliebter wird. Dies gilt vor allem für mediterrane Sonnen- und Stranddestinationen, um die Menschenmassen, extreme Hitze und Spitzenpreise während der Hochsaison zu vermeiden.
Solche Ziele werden nicht nur zu Stosszeiten, sondern auch zwischen Stoss- und Nebensaison gebucht. Dies zeigt sich beispielsweise in den spanischen Regionen Katalonien und den Balearen. Zwischen 2016 und 2023 stieg der relative Anteil der Touristenankünfte in den Zwischensaisonmonaten April, Mai, September und Oktober auf den Balearen um 2,2 % bzw. 3,0 %.
Noch ausgeprägter ist dieser Trend in Griechenland. Der Anteil der Reisenden während der Zwischensaison stieg im Vergleich zu 2019 und 2023 auf Rhodos um 6,3 %, auf Kreta um 5,0 % und in Saloniki um 2,9 %.
Dieser Trend unterstreicht die wachsende Attraktivität von Reisezeiten ausserhalb der Spitzenzeiten und bietet Reisedestinationen die Möglichkeit, den Touristenfluss effektiver zu steuern und das Besuchererlebnis das ganze Jahr über zu verbessern.
Ziehen Sie weniger überfüllte vergleichbare Ziele in Betracht
Um Übertourismus weiter zu vermeiden, wenden sich Reisende zunehmend an weniger bekannte Reiseziele, die ähnliche Erlebnisse wie ihre bekannteren Konkurrenten zu bieten haben.
«Anstatt sich auf überfüllten Stränden in Spanien, Italien oder Frankreich zu tummeln, könnten auch Touristen mal ruhigere Strandorte in Marokko, Montenegro, Portugal oder Albanien erkunden», schlägt Tsukanova vor. |
(Datenquelle: Phocuswright)
Phocuswright-Daten weisen darauf hin, dass die Wahl ruhiger und abgelegener Reiseziele bei der Auswahl eines Urlaubsortes immer wichtiger geworden ist. Während Schönheit immer noch der wichtigste Faktor ist, nimmt das Kriterium eines nicht überfüllten oder abseits der bekannten Routen gelegenen Reiseziels an Bedeutung zu.
Mit dem Anstieg des Nischentourismus, bei dem die Menschen Orte abseits der ausgetretenen Pfade besuchen, um dem Übertourismus zu entfliehen, zeichnen sich neue touristische Ziele ab. Zum Beispiel können Reisende, statt sich über die Menschenmassen in Venedig zu ärgern, lieber die Kanallandschaften und Fachwerkhäuser von Colmar, Frankreich erkunden. Anstelle von Mykonos oder Santorini bieten sich die Kykladen für sonnenhungrige Reisende an. Diejenigen, die die kulturelle Lebendigkeit Barcelonas suchen, werden in Valencia, Spanien, angenehm überrascht sein von der atemberaubenden Architektur und den schönen Stränden, die diese Stadt ohne den überwältigenden Touristenandrang zu bieten hat.
Die Daten zeigen, dass Valencia auf dem Vormarsch ist und bereits seinen Hauptkonkurrenten inSpanien wie den Kanarischen Inseln, den Balearen, Madrid, Andalusien und Katalonien den Rang abgelaufen hat. Im Vergleich zu 2019 hat die Region Valencia im Jahr 2023 9,8 % mehr Touristen begrüsst. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere die Zwischensaison von Januar bis April bei Touristen, die nach Valencia reisen, sehr beliebt und hat von 2019 bis 2024 einen Anstieg von 29,4 % verzeichnet.
«Natürlich stellt sich dann wieder ein anderes Problem, wenn das Reiseziel so populär wird, dass es früher oder später wieder unter Überfüllung leiden könnte. Übertourismus wird für solche Destinationen jedoch nur dann zum Problem, wenn sie nicht genug tun, um den daraus resultierenden Anstieg der Zahl der Unterkünfte zu bewältigen oder es versäumen, touristische Infrastrukturen zu entwickeln, die dem Zustrom von Touristen begegnen können», warnt Saul. |
Vorerst bieten solche alternativen Ziele und Reisen während der Zwischensaison nicht nur ein entspannteres und authentischeres Reiseerlebnis, sondern können auch dazu beitragen, den Touristenverkehr gleichmässiger zu verteilen und den Druck auf die örtlichen Gemeinschaften zu verringern, sind sich beide Experten einig.
Schliesslich geht es beim Reisen um bereichernde Erfahrungen und nicht nur darum, in der Schlange zu stehen, um ein kurzes Selfie zu machen oder einen kurzen Blick auf eine weltberühmte Ansicht zu erhaschen.