Der Hotel-Historiker und Hotel Inside-Autor Andreas Augustin verbrachte mehrere Tage im Archiv des Luxushotels Savoy in London. Und stieß bei seinen Recherchen auf eine „unglaubliche Geschichte“. Im zweiten Teil des Hotel Inside-Reports zur „Akte César Ritz“ enthüllt Augustin die wahren Gründe des Abgangs von Ritz im Savoy.
In einer langen Nachtsession im Archiv des Hotel Savoy in London stießen wir auf einen Fund, der uns die Sprache verschlug – oder eher den Appetit auf den mitternächtlichen Snack: Die geheimen Akten zum „Fall César Ritz“.
Das Savoy war 1889 bei seiner Eröffnung der beste „Formel 1 Wagen“, der einen „Top-Piloten“ suchte. Beste Technik, beste Maschine, beste Ausstattung, aber keinen Chauffeur. Der gebürtige Schweizer Hotelpionier César Ritz aus dem Goms (Wallis) war der richtige Mann. 250 Zimmer, aus denen man größtenteils Suiten mit Wohnzimmern und eigenen Bädern machen konnte. Das ebenfalls 1889 eröffnete Hotel Viktoria, das 500 Gäste akkommodieren konnte, hatte insgesamt vier Badezimmer. Wo andere für Bäder heftig abkassierten, waren sie im Savoy London im Preis selbstverständlich inkludiert.
Ascending Rooms liefen 24 Stunden am Tag
„Emporsteigendes Zimmer“ nannte man den Aufzug. Er war auch wie ein kleines Boudoir eingerichtet, mit einem Plüschsitzbänkchen, Samttapeten und einem Spiegel. Wirtschaftlich gesehen war der Aufzug ein Gamechanger. Damit waren auch die Zimmer in den obersten Stockwerken gleich gut erreichbar wie die in den tieferen Lagen. Plötzlich waren diese Zimmer – die man bislang nur durch einen mühsamen Treppen-Aufstieg erreichen konnte – interessant. Man hatte die bessere Aussicht. Und die Luft, das fanden alle, war in den oberen Stockwerken auch besser. Der Hotelier konnte nun für die Zimmer in den oberen Etagen mehr verrechnen.
Dafür musste man für Licht nicht mehr extra bezahlen. Statt die zuvor einzeln verrechneten Kerzen oder das flackernde und unsichere Gaslicht, brannten nun elektrische Glühbirnen im kristallverzierten Luster. Alle elektrischen Glühbirnen, darauf wurde extra hingewiesen, trugen Lampenschirme. Sie blendeten also nicht so unangenehm wie diese neuen, strahlenden Laternen, die einem jetzt – es lebe der Fortschritt – überall in die Augen knallten.
„Halte den Kopf hoch,“ hatte noch kurz zuvor César Ritz seiner Frau Marie befohlen. Dann hatte er dem Beleuchter ein Zeichen gegeben. „Nein, Rot ist zu dunkel! – und jetzt den blauen… Das ist scheußlich! Probiert Grün! Um Gottes willen, als wäre ihr übel… Nein, wir versuchen noch rosa.“
Marie Ritz seufzte und blickte ihren Mann an. „Ja!“, jubelte César Ritz. „Rosa! Das ist die richtige Farbe. Wir bestellen eintausend rosa Lampenschirme. Mit Rosa siehst du einfach am besten aus. Das Licht schmeichelt.“
Rosa wurde also zur Farbe der Lampenschirme im Hotel Savoy. Es ist bis heute die Farbe des Ritz Hotels.
Seine Originalität und Kreativität standen nur seiner ausgeprägten Ambition und einem Talent für Selbstvermarktung nach. Als César Ritz im Dezember 1889 als Generaldirektor des neuen Hotel Savoy in London sein Amt antrat, glich sein Auftritt einem Militärputsch in einem südamerikanischen Staat. Alle wichtigen Positionen wurden sofort durch seine Leute ersetzt. Da war der brillante Maître d’hôtel, François Rinjoux aus Monte Carlo. Ritz’ Assistent Echenard wurde mit einem Jahresgehalt von 500 Pfund zum Leiter der neuen Ritz-Hilfstruppe ernannt, unterstützt von William Autor. Der zutiefst ergebene Agostini übernahm die wichtige Position des Kassierers. Ein gewisser Herr Elles wurde als Restaurantmanager eingesetzt. Das letzte Puzzleteil fügte sich im März 1890 ein, als Ritz seinen Freund Auguste Escoffier überzeugte, die Leitung der Küchen im Savoy zu übernehmen. Mit diesem Team würde er nicht nur die internationale Klientel zufrieden stellen, sondern vor allem die Londoner Gesellschaft erobern.
Seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein widersprach scheinbar die Einstellung: „the customer is never wrong.“ Nur in einem Punkt kannte César Ritz kein Pardon: Die Gäste mussten immer in der perfekten Abendtoilette erscheinen. Außerdem behielt er sich das Recht vor, Tische nach seinem Gutdünken zu vergeben. Er führte die Praxis ein, auf leere Tische eine RESERVIERT-Tafel zu stellen. Damit konnte er sich die Halbwelt, die besonders in diesem Teil von London, dem Westend, verkehrte, vom Leib halten.
London war das Epizentrum des Konservativismus. Die Herren trafen sich in Klubs. Die Damen waren dort nicht erlaubt. Sie durften keine Restaurants allein betreten. Schon gar nicht mit Hut, einem unabdingbaren Accessoire der Dame von Welt. Damensalons kamen langsam in Mode.
Hotelier Ritz war entschlossen, in London ein kontinentales Ambiente zu schaffen. Er hatte in Wien gearbeitet, der Stadt der Musik und imperialen Pracht, wo die Menschen nach dem Theaterbesuch speisten. Er hatte in Paris gesehen, dass die Gesellschaft nach dem letzten Vorhang in der Oper in die Restaurants strömte. Ganz zu schweigen von der ausgelassenen Atmosphäre an der Côte d’Azur, wo sich Europas Aristokratie im Sommer zum Feiern traf – und Männer mit Frauen (manchmal sogar ihren eigenen) ausgingen. Er hatte den Prince of Wales und seinen „Marlborough-Set“ (wie dessen Freunde genannt wurden) in einer viel entspannteren Gesellschaftsatmosphäre in Baden-Baden oder an der Côte noch ganz andere Sachen machen gesehen.
In London galt es als „absolut unmoralisch“, sonntags öffentlich zu speisen. Berüchtigt dafür, Traditionen zu missachten und mit einem scharfen Geschäftssinn ausgestattet, tat César Ritz alles in seiner Macht Stehende, um diese Regeln abzuschaffen. Mit Unterstützung der Presse und sogar von Parlamentsmitgliedern führte er Sunday Dinner (wie die Hauptmahlzeit des Tages genannt wurde) ein. Die plötzliche Nachfrage nach frischem Brot an Sonntagen (kein Londoner Bäcker wollte am Tag des Herrn frisches Brot backen) führte zur Anstellung eines Bäckers aus Wien, eine Tradition, die seit über hundert Jahren im Savoy aufrechterhalten wird. Dieser Bäcker brachte die Wiener Backkunst mit, von knusprigem dunklem Roggenbrot bis zu Brötchen und Croissants, Kuchen und Apfelstrudel.
Im Einvernehmen mit einigen führenden Damen der Gesellschaft ebneten Ritz und D’Oyly Carte den Weg für Damen, nach dem Theater und spät abends an Essen teilzunehmen. Es war die Zeit der Suffragetten Bewegungen, und in den heiligen Hallen des Savoy wurde deutlich, wie sehr die Frauen diese willkommene Brücke zu einem neuen Selbstbewusstsein genossen. Im Jahr 1896 galt Elizabeth de Grammont als die erste Frau in London, die öffentlich eine Zigarette rauchte. Sie war auf Hochzeitsreise mit ihrem Ehemann, dem Duc de Clermont-Tonnerre, der viel sprach, während sie viel rauchte. Die anderen Gäste des Savoy Grill Rooms starrten ungeniert auf diese erstaunliche Vorstellung und erwarteten, dass etwas Außergewöhnliches geschah. Doch Elizabeth de Grammont explodierte nicht, sie ging auch nicht in Flammen auf…
Die Gäste genossen die Anwesenheit der Stars des Savoy Theaters, das ebenfalls dem Impresario Richard D’Oyly Carte gehörte. Der lud seine Schauspieler, die bislang keine besondere gesellschaftliche Stellung genossen, zum Dinner. Sie wurden zu angehimmelten Stars. Man versammelte sich um den gefeierten Komponisten Sir Arthur Sullivan und William Gilbert, dessen Witz Generationen von Theaterbesuchern in Erstaunen versetzte.
Marie Ritz erinnert sich in ihren Memoiren: „Die Gesellschaft in London war nach wie vor prätentiös. Sie zeigte sich in voller Montur im Theater, in der Oper, im Park und dank der Anziehungskraft von Ritz sogar im öffentlichen Restaurant des Savoy.“ Bis jetzt dürfen wir Marie Ritz trauen, wenngleich ihre Biografie ein die Wahrheit verschleiernder Heldenepos auf ihren wertvollen César war.
D’Oyly Carte und César Ritz wussten um die Anziehungskraft der neuen Stars. Die Mimim Sarah Bernhardt, die im Savoy wohnte, der amerikanische Autor und Weltreisende Mark Twain, Henry Irving, die australische Sängerin Nelly Melba oder Oscar Wilde fanden hier sowohl Atmosphäre als auch französische Küche. Adelina Patti fand auch Rivalität. Wenn „die“ Melba im Restaurant speiste, konnte es zwischen den beiden großen Diven der Bühne schon zu einem Eklat kommen. Da musste Ritz schnell den Sitzplan ändern.
Wollte jedoch ein englischer Gast mit dem französischen Küchenchef sprechen, wurde ihm mitgeteilt, dass Escoffier seine Sprache nicht spreche. Würde er Englisch sprechen, so befürchtete der Koch, würde er später wie ein Engländer kochen…
Kein Sprachproblem hatte Edward, Prinz von Wales. Sein Vater war Deutscher. Seine Mutter, Königin Victoria, regierte seit 1837 – und wer weiß, wie lange noch? Also hatte Prince „Bertie“ genügend Zeit, um sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Escoffier sandte aus der Küche Cuisses de Nymphes à l’Aurore. Der Prinz von Wales beugte sich über den Teller, schnüffelt an der paprizierten Moselweinsauce und hatte ein neues Lieblingsgericht. Der Name allein versetzte ihn schon in Erregung: „Schenkel der Nymphen im Morgengrauen“ klang zu verlockend. Er hatte Gefallen an diesen kulinarischen Gedichten. Was ihm auf der Zunge zerging, konnte er im wahren Leben nur mit Behelf konsumieren.
In Paris hatte er sich in einem Etablissement ein eigenes Gestell zimmern lassen, auf dem junge Mädchen sich hinzulegen hatten, an denen er sich befriedigen konnte, ohne sie mit seinem fetten Leib zu erdrücken. Wenn die Schenkel der Nymphen im River Restaurant im Savoy serviert wurden, stand César Ritz hinter dem Paravent und presste den Finger an die Lippen. Der Prinz sollte nie erfahren, dass er eigentlich Froschschenkel gegessen hatte, die er kategorisch ablehnte. Als er nach dem Rezept gefragt wurde, um es dem Koch des Palastes zu übersenden, stiegen Ritz Schweißperlen auf die Stirn…
César Ritz manövriert sich raffiniert durch den Dschungel der britischen Society, immer eine weiße Nelke im Knopfloch seiner perfekten Maßanzüge, von denen er an die 50 Stück besaß. Er personifizierte die Eleganz und war sicherlich auch daran beteiligt, dass zu dieser Zeit die englische Mode federführend auf der ganzen Welt war. Es war die große Zeit der Schneider der Savile Road, der Hemdenmacher aus der Jermyn Street, der englischen Schuster in St. James. Alle im näheren Umkreis des Prinzen von Wales, der europaweit als der bekannteste Dandy galt.
Seine Anpassungsfähigkeit galt als legendär. César Ritz merkte sich die Namen aller Gäste. Er wusste genau, wer welche kulinarischen Vorlieben hatte. Er war ein genialer Gastgeber, der geduldig allen Gästen alles recht machen wollte. Als ein Mister Galdstone nach langem Studium der Speisekarte ein hartgekochtes Ei, einen Toast und ein Glas Wasser bestellte, gratulierte Ritz ihm persönlich zu der gelungenen Auswahl. Ritz wurde zum perfekten Organisator, von der kleinsten Geburtstagsparty bis zur Ballnacht mit hunderten Gästen. Die Liste der Feste, die er ausrichtete, ist endlos die Liste der Gäste legendär. Churchill, Marlborough, Manchester, Lady de Grey. Für den deutschen Industriellen Krupp, der darauf bestand, etwas für seine Gäste zu haben, was es bisher noch nicht gab, installierte Ritz im Wintergarten einen bunt beleuchteten Brunnen, aus dem Champagner sprudelte. Für den südafrikanischen Gold- und Diamantenmagnat Alfred Beit wurde für eine venezianische Nacht der Innenhof geflutet – und echte Gondoliere ruderten die ganze Nacht Gäste um den Brunnen.
César Ritz installierte ein geheimes Klingelzeichen, das die Ankunft eines königlichen Gastes signalisierte. Da setzte sich der gesamte Führungsstab in Bewegung, ein sauberes Jacket wurde übergezogen, die Nelke ins Knopfloch gesteckt, und das Management Team nahm in der Halle zur Begrüßung Aufstellung.
Das Savoy wurde nicht nur zum begehrtesten Arbeitsplatz in der Hotelindustrie. Es wurde auch zur Ausbildungsstätte von legendären Oberkellnern, Hoteldirektoren und Küchenchefs. Der Name Savoy im Dienstzeugnis garantierte eine Anstellung in der Spitzenhotellerie weltweit. Ritz’ Philosophie, je einen Diener für jeden einzelnen Gast zu haben, wurde zum talk of the hotel world. Aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Amerika, reisten Investoren an, die das viel gerühmte Savoy und vor allem seinen mittlerweile legendären Direktor kennenlernen wollten. Ritz war selbst zum Star geworden.
Er war getrieben von dem Bedürfnis seiner anspruchsvollen und teilweise grenzenlos vermögenden Kundschaft, immer wieder neue Sensationen zu bieten. Die Kapelle, die zum Dinner aufspielt, reichte nicht mehr. Es musste das Orchester von Johann Strauss aus Wien sein, das nun für eine Saison im Savoy auftrat. Tatsächlich entwickelten die Gäste auffallend mehr Appetit zu Wiener Walzer und Polka. Wieder einmal hatte Ritz auf das richtige Pferd gesetzt.
Auch sein persönliches Leben hatte sich in den Jahren in London grundlegend verändert. Das Haus, in dem er mit seiner Frau und seinem neugeborenen Sohn Charles lebte, war wunderschön ausgestattet. Aus dem Savoy kamen die besten Speisen und die feinsten Weine. Der Blumenschmuck konnte sich mit dem elegantesten Etablissement messen. Er hatte einen personal coach, der mit ihm jeden Morgen ausritt. „Versuchen Sie wenigstens, für eine Stunde ihre Arbeit zu vergessen,“ riet er Ritz. Hatte er Anzeichen erkannt, dass Ritz manchmal „der Schädel platzte“ von all der Verantwortung?
Doch die Pläne, die César Ritz in sich trug, gingen weit über London hinaus. Vertraglich war er schließlich nur für fünfzig Prozent des Jahres an das Savoy gebunden. Wer Ritz kannte, wusste, dass die restlichen fünfzig Prozent nicht untätig verlaufen würden. 1895, am Höhepunkt seiner Londoner Karriere, pachtete er mit einem Konsortium das elegante Hotel Frankfurter Hof in der Stadt am Main. In Rom führte er im Namen der Londoner Savoy Gesellschaft Verhandlungen über den Ankauf einer als Hotel konzipierten Baustelle. Die Verhandlungen verliefen erfolgreich. Ganz besonders für Ritz. Doch dazu später. Die Savoy Gesellschaft stellte den Bau fertig und eröffnete glamourös mit Caesar Ritz und Escoffier an der Spitze jenes Grand Hotel, das heute als St. Regis nach wie vor zu den besten Hotels der ewigen Stadt und der Welt zählt.
Ritz war so oft von London weg, dass seine Frau Marie beklagte, sie würde vor Einsamkeit sterben. Ritz arbeitete an den unterschiedlichsten Geschäften. Eines war das Patent für Milch-Sterilisation. Er verkaufte es einer Berner Alpenmilch-Gesellschaft. Er wurde als Konsulent in den Vorstand der neuen ägyptischem Hotelgesellschaft berufen, die später die Ritz Hotels Development Company finanzieren würde. Aus Amerika kamen fantastische Angebote, luxuriöse Hotelführung in der neuen Welt zu etablieren. Aus Berlin erreichte ihn das Angebot eines gewissen Herrn Adlon, ihm in der Errichtung eines neuen Luxushotels in der deutschen Hauptstadt zur Verfügung zu stehen. Geld floss aus allen Kanälen in die privaten Kassen des strebsamen Schweizers. Aus Rom kam eine nicht unerhebliche Summe, die aus dem Verkauf des Grand Hotels stammte. In Maidenhead kümmerte er sich um das Hotel Riviera.
Während sich das Hauptaugenmerk auf den Frontmann César Ritz konzentrierte, arbeitete im Hintergrund August Escoffier vollkommen unbemerkt. Er hatte sich in London offensichtlich doch besser etablieren können, als seine mangelnden Sprachkenntnisse vermuten ließen. Mittlerweile besaß der in finanziellen und geschäftlichen Angelegenheiten nicht sehr talentierte Escoffier eine eigene Supply Firm, über die das Savoy und alle unter Escoffier stehenden Betriebe die Lebensmittel bezogen. Diese Firma verkaufte nicht nur Lebensmittel des täglichen Bedarfs, sondern importierte vermutlich feine Schweizer Käse, Würste, Fleischwaren und Weine. Auffällig wurde zu dieser Zeit, dass Escoffier beim Wareneingang einen Kontrolleur beschäftigte, den er eingestellt hatte…
Im Grunde genommen wäre vermutlich alles vollkommen unauffällig verlaufen. Doch als die Gewinne im F&B-Bereich merklich abnahmen, statt jedes Jahr zu steigen, wurde der Sekretär der Savoy Gesellschaft misstrauisch. Von nun standen Ritz und Escoffier, ohne es zu wissen, unter Beobachtung, basierend auf diesem internen Memo:
„Die Halbjahresabschlüsse zeigten einen dramatischen Rückgang des Reingewinns als Prozentsatz der Einnahmen, von 24 Prozent im Jahr 1895 auf nur 13 Prozent im Jahr 1897.“
Als Ritz‘ Erklärung unbefriedigend ausfiel, wurde eine peinliche Prüfung und Untersuchung eingeleitet. Sie dauerte fünf Monate. Dann kam der 7. März 1898. Das an diesem Tag an die Herren Ritz, Echenard und Escoffier übergebene Kündigungsschreiben war unmissverständlich:
„Gemäß einem Beschluss, der heute Morgen gefasst wurde, sind Sie aus den Diensten des Hotels entlassen worden, aus mehreren ernsten Gründen, darunter grobe Fahrlässigkeit, Pflichtverletzungen und Missmanagement. Ich wurde des Weiteren beauftragt, Sie zu bitten, das Hotel unverzüglich zu verlassen.“ Gezeichnet: der Sekretär der Gesellschaft.
Als der für alle Aussenstehenden vollkommen überraschende Abgang des Spitzenduos bekannt wurde, blockierte die Küchenmannschaft von Escoffier in treuer (und ahnungsloser) Verbundenheit aus Protest den Eingang zur Küche. Am 8. März 1898 meldeten Londoner Zeitungen, dass sich „eine Küchenrevolte“ vor dem Personaleingang des Hotel Savoy am Strand abspielte. Eine Gruppe von deutschen und Schweizer Kellnern und Köchen blockierte den Eingang und streikte. Sie ließen niemanden hinein oder hinaus. Die Köche hatten ihre langen Messer im Anschlag und bedrohten jene Kollegen, die die Küche betreten wollten. Es kam zu einem Polizeieinsatz, die Köche wurden entwaffnet und temporär festgenommen. Auffallend war, dass all diese Köche nicht englisch sprachen.
Wenige Tage später drangen die ersten Gerüchte durch, es hatte Unregelmäßigkeiten in den Erträgen beim Einkauf von Lebensmitteln und Wein gegeben. Die Aktien der Savoy Gesellschaft stürzten über Nacht ab. Das entlassene Management-Team kündigte spontan an, dass es wegen „unrechtmäßiger Kündigung“ Klage gegen das Unternehmen erheben würde. Alle wurden sofort von der Ritz Development Company eingestellt und mussten sich keine Sorgen um ihre persönliche oder berufliche Zukunft machen.
Die unangenehme Angelegenheit wurde erst zwei Jahre später endgültig beigelegt. Im Jahr 1900 ließ das entlassene Trio ihre rechtlichen Schritte fallen und unterzeichnete eine mea culpa-Erklärung. Echenard und Ritz erstatteten gemeinsam 4173 £ und Ritz selbst musste 6377 £ zur Deckung der Kosten für „bestimmte Weinlieferungen“ zurückzahlen (was heute Hunderttausende von Pfund wären. Zur Erinnerung: Das Jahresgehalt von Ritz betrug 1000 Pfund). Escoffier, der einem Urteil gegen ihn aufgrund der Gegenklage des Savoy Hotels zustimmte, sollte 8000 £ zurückzahlen. Alles wurde einvernehmlich geregelt und der Kaiser der Köche, notorisch knapp bei Kasse, musste nur 500 £ an seine vorherigen Arbeitgeber erstatten.
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Kommt es nicht auch heute immer wieder vor, dass glänzende Persönlichkeiten in der Gesellschaft ein Opfer ihrer eigenen Gier nach Selbstverwirklichung werden? Ist nicht gerade die Hotellerie, wo man umgeben ist von Gästen, die über scheinbar unerschöpfliche Mittel verfügen, eine große Verführerin? César Ritz hatte unter dieser peinlichen Affäre persönlich sehr gelitten. Seine Gesundheit war angegriffen. Die glanzvollen Meilensteine, die er in der Folge noch zu setzen vermochte, sind aber bis heute bleibende Fixsterne in unserer Welt der Hotellerie geblieben. Die Standards, die er erfunden hatte, sprengten damals die Vorstellungskraft und Grenzen aller Gastronomen.
Über 100 Jahre lang waren alle Unterlagen zu diesem Fall verschwunden, in den Tiefen des Savoy Archivs verborgen. Marie Ritz kümmerte sich um das Vermächtnis ihres Mannes und überlebte den großen César (†1918) um 43 Jahre. Sie unternahm in einer ausführlichen Biografie alles, um die gesamte Affäre unter den Teppich zu kehren. Und dort blieb sie auch. Bis in jene Nacht, in der wir diese ominöse Schachtel fanden mit dem Aufdruck: Strictly Confidential.
Teil 3 und Schluss (nächste Woche auf Hotel Inside): Warum César Ritz – trotz der Affäre im Savoy London – einer der größten und erfolgreichsten Hoteliers des 19. und 20. Jahrhunderts war – und puncto Service und Hoteleinrichtung Maßstäbe setzte, die heute noch Gültigkeit haben.