Ein realer Betrugsfall im legendären Grand Hotel Wien inspirierte die österreichische Autorin Vea Kaiser zu einem fulminanten Roman: «Fabula Rasa». Die Geschichte einer Buchhalterin, die über Jahre Millionen veruntreute, wird zu einem vielschichtigen literarischen Porträt über Herkunft, Muttersein, Arbeit – und den schmalen Grat zwischen Anpassung und Rebellion.

Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2021 lieferte den Ausgangspunkt für Vea Kaisers neuen Roman «Fabula Rasa». Darin wurde der Fall einer Buchhalterin beschrieben, die in einem bekannten Wiener Grand Hotel über zwei Jahrzehnte hinweg mehr als vier Millionen Euro unterschlug. Sie änderte bei internen Überweisungen schlicht die Kontonummer – ein unspektakulärer Trick, der jedoch erstaunlich lange unentdeckt blieb. Für Kaiser war dieser echte Skandal mehr als nur Stoff für einen Kriminalfall: Er wurde zur Grundlage eines vielschichtigen Romans über eine Frau, die sich aus prekären Verhältnissen in die Welt des Glamours kämpft.


Im Mittelpunkt steht Angelika Moser, die im Wiener Gemeindebau aufwächst, als Tochter einer Hausmeisterin. Von den Kindern als «Bankert» verspottet, entdeckt sie früh ihr Talent für Zahlen. Ihre Mutter nennt sie die «Zettelfee» – und es ist diese Gabe, die Angelika schliesslich ins Grand Hotel Frohner führt, ein prachtvolles Traditionshaus, das zu ihrem beruflichen und emotionalen Sehnsuchtsort wird. Als alleinerziehende Mutter reicht ihr Gehalt jedoch kaum zum Leben. Was als Überforderung beginnt, wird bald zu systematischem Betrug.
Kaiser bricht bewusst mit gängigen literarischen Rollenbildern: Statt Frauen als Opfer zu zeigen, porträtiert sie Angelika als Täterin, als jemand, der Grenzen überschreitet – nicht aus Bosheit, sondern aus Notwendigkeit, Ehrgeiz und dem Wunsch, ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen. Dabei stellt der Roman die Frage, wie viel Moral sich Menschen leisten können, die wenig haben.
Gleichzeitig ist «Fabula Rasa» eine Hommage an die Arbeitswelt. Angelika zieht Kraft aus Struktur, Organisation und Klarheit. Anders als die heutigen Debatten über Vier-Tage-Wochen und Work-Life-Balance suggerieren, beschreibt Kaiser eine Frau, die Arbeit als Quelle von Identität, Selbstwert und Teilhabe begreift. Wenn ihr Privatleben chaotisch wird, flüchtet sie ins Büro – an einen Ort, an dem Ordnung möglich ist.
Der Roman lebt von der Atmosphäre Wiens: Dialekt, Eigenheiten, Kulinarik, kulturelle Codes – vom Beisl bis zum Opernball, vom Fluchtachterl bis zum Fetzenschädel. «Fabula Rasa» ist damit nicht nur ein Schelminnen-Roman, sondern auch ein Stadtporträt voller Witz und Beobachtungsgabe. Auf über 550 Seiten entfaltet sich eine pralle Geschichte über Aufstieg, Täuschung, Mutterliebe, Arbeitsethik und das zerbrechliche Gleichgewicht zwischen Schein und Sein.
Am Ende zeigt Kaiser eine Figur, die zwischen Bewunderung und moralischem Zweifel pendelt. Angelika Moser ist Täterin und Opfer zugleich – ein Produkt ihrer Herkunft, aber auch eine Frau, die sich ihr eigenes Schicksal nimmt. Damit gelingt Kaiser ein Roman, der weit über die reale Vorlage hinausgeht und die Leserinnen und Leser tief in die Welt eines Grand Hotels – und in die Grauzonen des Menschlichen – eintauchen lässt.

Inside-Buch-Tipp: «Fabula Rasa oder die Königin des Grand Hotels»
Roman
Vea Kaiser erzählt in ihrem rasanten neuen Roman von einer jungen Mutter, die über alle Hürden hinweg im Wiener Traditionshotel Karriere macht und ihre Geschichte selbst in die Hand nimmt.
Wien, Ende der Achtzigerjahre: Angelika Moser, aufgewachsen im Gemeindebau als Tochter der Hausbesorgerin, verbringt ihre Freizeit durch das Nachtleben tanzend. Gleichzeitig liebt sie ihren Job in einer für sie neuen, eleganten Welt: Als Buchhalterin im Grand Hotel Frohner, das von Wiener Originalen und Gästen von überallher bevölkert wird, lässt sie sich auf zweifelhafte Zahlenspiele ein, um das Etablissement zu retten. Plötzlich mit kleinem Kind auf sich allein gestellt, nimmt Angelika den Kampf um ein gutes Leben auf und beginnt, Rechnungen zu manipulieren. Jahrzehnte vergehen – bis ihr die Zahlen um die Ohren fliegen.
Vea Kaiser erzählt in «Fabula Rasa» mit sprachlicher Brillanz, Witz und Gefühl vom Streben nach Glück.
Verlag Kiepenheuer & Witsch (2025)
