Mit dem Projekt «Ticino365» läutet der Kanton Tessin eine neue Ära ein. Statt vom Sommer abhängig zu sein, will man den Tourismus über das ganze Jahr hinweg beleben. Hinter dem ambitionierten Plan stehen spannende Strategien und engagierte Köpfe. Hotel Inside kennt die Hintergründe.

In Bellinzona wurde vor wenigen Wochen ein Konzept vorgestellt, das den Tessiner Tourismus grundlegend verändern soll. Unter dem Titel Ticino365 will der Südkanton die touristische Saisonalität durchbrechen – und sich als Reiseziel für alle vier Jahreszeiten positionieren.
Was heute wie eine Vision klingt, ist das Ergebnis intensiver Arbeit einer branchenübergreifenden Gruppe unter der Leitung von Angelo Trotta (Direktor Tessin Tourismus) und Max Perucchi (Präsident HotellerieSuisse Ticino).
54 konkrete Vorschläge aus acht Themenfeldern – von Angebotsentwicklung über Kommunikation bis Infrastruktur – bilden das Rückgrat der Initiative.
Ziel ist es, das Tessin auch in den ruhigeren Monaten sichtbar, attraktiv und wirtschaftlich relevant zu halten.


Vom Sommerparadies zur Ganzjahresdestination
Heute gilt das Tessin als klassisches Sommerziel: Mediterranes Klima, Seen, Palmen, Festivals. Doch im Winter leeren sich die Gassen von Ascona, Locarno und Lugano. Hotels schliessen, Restaurants reduzieren ihre Öffnungszeiten, und ganze Regionen fallen in eine Art touristischen Winterschlaf. „Wir wollen dieses Muster jetzt durchbrechen“, erklärt Angelo Trotta. „Das Tessin ist zu schade, um nur im Sommer entdeckt zu werden. Herbst und Winter bieten unschlagbare Argumente – von der Kulinarik über die Kultur bis zu milden Outdoor-Erlebnissen.“

Das neue Konzept sieht gezielte Kampagnen vor, die genau diese Themen betonen. Statt Skifahren rücken Wandern, Geniessen und Entdecken in den Mittelpunkt. Eine digitale Plattform soll inspirieren: Auf my.ticino.ch werden Erlebnisvorschläge, offene Betriebe und saisonale Highlights präsentiert – flankiert von Social-Media-Kampagnen und einer interaktiven Plakataktion in Zürich.
Stimmen aus der Branche
Max Perucchi betont: „Der Erfolg hängt nicht nur von den Hotels ab, sondern vom Engagement aller Akteure – Gemeinden, Verbände, Betriebe.
Nur gemeinsames Handeln kann dauerhafte Ergebnisse bringen.“
Auch Simone Patelli, Präsident von Tessin Tourismus, sieht Ticino365 als Langzeitprojekt:
„Wir müssen Kontinuität schaffen – nicht nur kurzfristige Aktionen. Das Ziel ist ein stabiler, berechenbarer Tourismus über das ganze Jahr.“

Unterstützung kommt auch von Martin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus: „Herbst und Winter sind im Tessin noch unentdeckte Chancen. Entscheidend ist, die richtigen Gäste zur richtigen Zeit anzusprechen.“
Ein Wirtschaftsfaktor mit Gewicht
Die Bedeutung des Tourismus für den Südkanton ist enorm. Laut einer Studie des Departements für Finanzen und Wirtschaft trägt die Branche 9,6 Prozent zum Tessiner Bruttoinlandprodukt bei
und generiert einen Bruttowertschöpfungsbeitrag von 2,1 Milliarden Franken. Über 20’000 Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt vom Tourismus ab – viele davon saisonal.
Stefan Rizzi, Direktor der Abteilung Volkswirtschaftslehre, sieht in der Entsaisonalisierung einen entscheidenden Hebel: „Das bedeutet mehr Kontinuität für Beschäftigte, mehr induzierte Einnahmen und eine höhere Standortattraktivität. Die saisonale Glättung stärkt die gesamte Volkswirtschaft.“

Von der Theorie zur Praxis – die ersten Schritte
Noch in diesem Jahr sollen die ersten Massnahmen umgesetzt werden. Neben den Marketingkampagnen sind Kooperationen mit Schweiz Tourismus und Bahntour geplant, um attraktive Winterpakete zu lancieren. Zudem wird in München eine Winter-Promotion starten, begleitet von Festpreisangeboten mit Coop.
Auch der Tessiner Partnertag 2025 steht ganz im Zeichen der neuen Strategie – als Plattform für erste Kooperationen und Austausch zwischen den Branchenakteuren. Ein begleitendes Manifest ruft Betriebe dazu auf, ihre Öffnungszeiten zu verlängern und Know-how zu teilen.
Farben, Klänge und Nachhaltigkeit
Dass das Tessin längst mehr ist als nur ein Sommerziel, zeigt auch die Kampagne Colori del Ticino. Was einst mit fünf Farbtönen begann – etwa „Brissago Blue“ – hat sich zu einer ganzen Erlebniswelt entwickelt. Jede Farbe steht für eine Stimmung, einen Ort, eine Geschichte. Sogar auf Spotify gibt es inzwischen den passenden Soundtrack dazu.

Gleichzeitig setzt der Kanton stark auf Nachhaltigkeit: Mit dem Ticino Ticket für den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und der Swisstainable-Zertifizierung auf Level 2 befindet sich der Kanton auf bestem Weg zur höchsten Nachhaltigkeitsstufe. „Ein nachhaltiger Ganzjahrestourismus ist das Zukunftsmodell. Wir wollen wachsen, aber im Gleichgewicht mit Mensch und Natur“, fasst Jurij Meile von Tessin Tourismus zusammen.

Der Weg in die Zukunft
Mit Ticino365 will das Tessin zeigen, dass Wandel möglich ist – wenn alle am gleichen Strang ziehen.
Der Weg ist langfristig, die Ziele ambitioniert: Stabilität für Betriebe, Planbarkeit für Arbeitskräfte und neue Erlebnisse für Gäste. Oder, wie es Trotta formuliert: „Tourismus im Tessin das ganze Jahr über – das ist kein Slogan, sondern ein erreichbares Ziel.“

Warum das Tessin eine Ganzjahresdestination werden muss
Der Tourismus im Tessin steht an einem Wendepunkt. Die starke Abhängigkeit von der Sommersaison gefährdet langfristig die wirtschaftliche Stabilität, die Beschäftigung und die Wettbewerbsfähigkeit des Südkantons. Diese zehn zentralen Argumente zeigen, warum das Tessin den Schritt zur Ganzjahresdestination unbedingt wagen muss:
- Stabilere Wirtschaft: Ein ausgeglichener Tourismus über das ganze Jahr reduziert saisonale Schwankungen und sichert kontinuierliche Einnahmen.
- Arbeitsplätze sichern: Ganzjahrestourismus schafft dauerhafte Jobs statt kurzfristiger Saisonstellen – besonders in Hotellerie und Gastronomie.
- Höhere Auslastung der Infrastruktur: Hotels, Bahnen und touristische Einrichtungen können effizienter genutzt werden, statt monatelang stillzustehen.
- Weniger Abhängigkeit von Wetter und Saison: Durch attraktive Herbst- und Winterangebote bleibt das Tessin auch bei wechselnden Klimabedingungen interessant.
- Nachhaltigkeit fördern: Ganzjahresbetrieb bedeutet eine bessere Nutzung bestehender Ressourcen und weniger Belastung durch saisonale Spitzen.
- Neue Zielgruppen gewinnen: Kultur-, Genuss- und Aktivtourismus ziehen Gäste an, die nicht auf Sommerferien angewiesen sind.
- Stärkung regionaler Identität: Der Kanton kann sich als vielfältige, lebendige Region präsentieren – nicht nur als Sommerziel, sondern als Ort für alle Jahreszeiten.
- Bessere Wettbewerbsposition: Andere Regionen in der Schweiz und im Ausland (Südtirol) setzen längst auf Ganzjahresstrategien – das Tessin darf den Anschluss nicht verlieren.
- Förderung der Städte: Lugano zeigt, wie urbaner Ganzjahrestourismus funktioniert – dieses Modell lässt sich auch auf andere Regionen übertragen.
- Langfristige Zukunft des Tourismus sichern: Nur wer das ganze Jahr über Gäste anzieht, bleibt wirtschaftlich und gesellschaftlich relevant.

