Ja, der Schweizer Tourismus boomt – zumindest auf dem Papier. Logiernächte auf Rekordniveau (2024/25), stabile Nachfrage, volle Häuser: HotellerieSuisse spricht von einer Erfolgsstory (vgl. Anhang). Doch hinter den glänzenden Zahlen steckt eine Branche, die zunehmend an ihren Strukturen, Kosten und ihrer Zukunftsfähigkeit leidet. Wer genau hinschaut, erkennt: Der Zustand der Schweizer Hotellerie ist alles andere als rosig.
Rekordzahlen mit Schönwetter-Tarnung
2024 war ein Rekordjahr für die Schweizer Hotellerie: über 42,8 Millionen Logiernächte, ein Plus von 2,6 Prozent. Vor allem Gäste aus den USA (+13,9 %) und anderen Fernmärkten sorgten für Wachstum, während die Nachfrage aus Europa stabil blieb. Doch diese Zahlen täuschen. Logiernächte sind kein Indikator für wirtschaftliche Gesundheit – sie sagen nichts über Erträge, Margen oder Liquidität aus. Trotz mehr Gästen kämpfen viele Hotels mit steigenden Kosten, sinkenden Margen und wachsender Unsicherheit.

Kostenexplosion und Druck auf Margen
Die Kostenkurve zeigt steil nach oben: Energie, Lebensmittel und vor allem Löhne belasten die Betriebe massiv. 2024 stiegen die Beherbergungseinnahmen je Zimmernacht um nur 1,9 Prozent, während die Personalkosten zweistellig zulegten. Viele Häuser wirtschaften am Limit, insbesondere kleine und mittlere Betriebe, die 90 Prozent des Marktes ausmachen. Der betriebliche Alltag vieler Inhaber gleicht einem Dauerlauf – 16-Stunden-Tage sind keine Ausnahme.

Digitalisierung? Eher Mittelalter als Zukunft
Zwar spricht die Branche gern von Digitalisierung und KI, doch die Realität ist ernüchternd. Viele Hotels sind technologisch Jahre hinterher. Buchungssysteme, automatisierte Preissteuerung oder KI-basierte Gästekommunikation – Fehlanzeige. Der KI-Hotelexperte Riccardo Giacometti formuliert es drastisch: «Die meisten mittelständischen Hotels in der Schweiz sind in Sachen Digitalisierung und KI noch im Mittelalter.» Während internationale Ketten längst datengetrieben operieren, arbeiten viele Schweizer Betriebe noch mit Excel-Listen und Papierformularen.
Fachkräftemangel – Symptom einer tieferen Krise
2024 beschäftigte die eidgenössische Beherbergungsbranche rund 80.000 Mitarbeitende – weniger als vor zehn Jahren, obwohl die Logiernächte um 18 Prozent gestiegen sind. Der Nachwuchs fehlt: Die Zahl neuer Lehrverträge im Gastgewerbe ist seit 2010 stark rückläufig. Das Gastgewerbe verliert seit Jahren an Attraktivität – lange Arbeitszeiten, tiefe Löhne und fehlende Entwicklungsmöglichkeiten schrecken junge Menschen ab. Der Fachkräftemangel ist daher kein Schicksal, sondern weitgehend hausgemacht.
Positionierung? Fehlanzeige
Etwa zwei Drittel der Schweizer Hotels haben kein klares Profil. Sie bieten solide Qualität und gepflegte Infrastruktur – aber kaum Wiedererkennungswert. Viele verkaufen sich über den Preis und landen so direkt in der Abhängigkeit der Online-Reiseportale (OTA). Diese kassieren bis zu 15 oder gar 20 Prozent Provision pro Buchung. Statt eigene Markenidentität zu entwickeln, verstärken viele Betriebe ihren Abwärtstrend selbst.
Nachfolge und Marktkonzentration
Die Nachfolgefrage wird zunehmend zum strukturellen Risiko. Viele kleine Hotels mit 20 bis 40 Zimmern finden keine Käufer – ausser sie liegen an Toplagen. Parallel expandieren internationale Marken auch in Schweizer Ferienregionen. Die Kettenhotellerie professionalisiert Prozesse, optimiert digital – und verdrängt traditionelle Familienbetriebe. Was als Modernisierung verkauft wird, ist in Wahrheit Marktkonzentration.
Strategie? Fehlanzeige
Viele kleine und mittlere, privat geführte Hotels stecken im operativen Überlebensmodus. Sie reagieren, statt zu agieren – und stellen sich grundlegende Zukunftsfragen nicht mehr. Strategische Planung, Digitalisierung, Nachfolge, Positionierung: Fehlanzeige. Externe Beratung wird oft als Luxus betrachtet, obwohl sie dringend nötig wäre. Der Mangel an Weitblick gefährdet die Zukunftsfähigkeit der Branche mehr als jeder Wechselkurs.
Glanz mit Schatten
Ja, die Schweizer Hotellerie erlebt goldene Zahlen – aber keine goldenen Zeiten. Wer genauer hinschaut, erkennt strukturelle Schwächen, verschleiert von kurzfristigem Erfolg und Logiernächte-Statistiken. Die Branche steht vor einem Wendepunkt: Ohne Digitalisierung, klare Strategien und mutige Neuausrichtung droht der Absturz aus der Komfortzone. Rekordzahlen sind kein Schutzschild gegen Stillstand.
Hans R. Amrein
