Abhängigkeit von Auto wird drastisch sinken
Die EU will das Radfahren entscheidend voranbringen – in Deutschland steigen aber die Emissionen im Verkehrssektor und immer mehr Autos werden zugelassen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Ab diesem Jahr gibt es die europäische Gesetzgebung CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive – Nachhaltigkeitsberichterstattung) und ESG (Environmental, Social and Governance – Umwelt, Soziales und Unternehmensführung). Firmen müssen nun im Reporting nachweisen, wie sie die Mobilität ihrer Mitarbeiter gestalten, zum Beispiel auf Geschäftsreisen und auf dem Weg zur Arbeit. Zeigt das Reporting, eine Firma setzt alleine aufs Auto, wird sie abgestraft: Sie wird weniger attraktiv für Fachkräfte und Banken werden dem Unternehmen keine günstigen Kredite mehr gewähren. Firmen stehen also stärker unter Druck, ihre Mobilität zu verändern, deshalb werden Job- oder Diensträder und Mobilitätsbudgets immer wichtiger – das Fahrrad ist also mittendrin! Entsprechend reduziert sich die Abhängigkeit vom Auto über die nächsten Jahre drastisch.
Firmen sehen Fahrrad als positiven Standortfaktor
Unternehmen und Wirtschaft betrachten das Fahrrad plötzlich aus einer anderen Perspektive, weil es zum positiven Standortfaktor geworden ist: Je mehr Radfahrer und Fußgänger in einer Stadt unterwegs sind, desto größer ist der wirtschaftliche Erfolg der Stadt. Genau aus diesem Grund müssen Kommunen ihre Radinfrastruktur verbessern, denn wenn die Mitarbeiter der Unternehmen nicht sicher mit dem Rad fahren können, hilft das der Wirtschaft nicht weiter.
Um die nachhaltige und aktive Mobilität zu fördern, haben Kommunen jetzt endlich mehr Handlungsspielraum: Wir bekommen eine reformierte Straßenverkehrsgesetzgebung und können den öffentlichen Raum verändern. Beispielsweise können nun Radspuren aus städtebaulichen Gründen eingerichtet werden. Auch Parkplätze lassen sich zu Parklets, kleinen Cafés, Aufenthaltsräumen, Reparaturshops oder Mobilitätsstationen umwidmen.
Auto funktioniert als Wirtschafts- und Wohlstandsfaktor nicht mehr
Die Entwicklung in Deutschland erkläre ich mir durch die letzten 70 Jahre: Das Auto war ein wichtiger Wohlstandsfaktor und ein wichtiger Teil der Verkehrsteilhabe. Dieses Wirtschafts- und Wohlstandsmodell hat über 70 Jahre – ansatzweise – gut funktioniert. Das darf man aber nicht den 3.000 Verkehrstoten pro Jahr und deren
Angehörigen oder den Menschen sagen, die an Lungen- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, für die das Auto zum wesentlichen Teil verantwortlich ist. Aber für die Politik hat das Modell funktioniert – jetzt stecken wir in einer der größten wirtschaftlichen Krisen unserer Zeit und anstatt den nächsten Schritt in die Zukunft zu gehen und die Transformation mit Blick nach vorne zu entwickeln, blickt man auf die letzten 70 Jahre zurück und glaubt, diese
Lösung sei immer noch tragfähig für die Zukunft. Dass das ein Trugschluss ist, stellen wir bereits heute fest.
Andere europäische Länder gehen bei der Verkehrswende voran. Inwiefern ist das Verharren Deutschlands im Autoland problematisch für die Zukunft?
Das ist vor allem für die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland problematisch. Paris ist mit Abstand die Stadt, die die größten Investitionen auf sich zieht. Das darf man nicht nur durch die Verkehrspolitik erklären, zu den Olympischen Spielen wollten hier viele Unternehmen präsent sein. Paris ist heute das Vorbild für jede Stadt, die wettbewerbsfähig sein will. Deutsche Städte spielen bei europäischen oder globalen Indizes zur Lebensqualität oder zur Smart City nur selten eine Rolle. Unter den Top Ten sind Städte wie Zürich, Wien, Kopenhagen, Amsterdam oder Paris zu finden.
Kommunen müssen handeln, um den Anschluss nicht zu verlieren
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sinkt dramatisch und der Rückstand wird größer. Auch deshalb sollten Kommunen die Chancen nutzen, die in der Reform des Straßenverkehrsrechts stecken – wenn sie nicht komplett den Anschluss verlieren wollen.
Beim Thema Zukunft müssen wir auch über die nächsten Generationen sprechen. Wie unterscheiden sich die Mobilitätsverständnisse der Generationen?
Sie unterscheiden sich sehr stark. Ich habe eine Untersuchung mit der Generation Z gemacht und 18- bis 23-Jährige gefragt: Was bedeutet Mobilität für euch? Ihre Antwort: Mobilität ist Flexibilität, Unabhängigkeit und Freiheit. Sie wollen keine teuren Gegenstände kaufen und auch keine Leasingverträge abschließen. Das Fahrrad wird folglich Teil eines größeren Sharing-, Abo- oder Mietmodells sein. Das Kaufen von Fahrrädern ist natürlich immer noch relevant, weil Fahrräder günstiger sind als Autos. Die Menschen werden vielleicht zwei, drei Fahrräder besitzen, aber sie werden auch Fahrräder nutzen, die irgendwo in einer Stadt zum Beispiel am Bahnhof stehen.
Sie werden multimodaler unterwegs sein, je nach Wetterlage oder Kalendereintrag.
Früher hat man sich ein Auto gekauft und so den Zugang zur Mobilität gesichert sowie ein Statussymbol erworben. Beides wird in Zukunft für Menschen in der Stadt und auf dem Land immer weniger eine Rolle spielen.
Was bedeutet Umgestaltung von Räumen konkret?
Wir sprechen tatsächlich von einem Umbau, denn keine deutsche Stadt braucht mehr als eine Spur für Autos pro Richtung. Überall dort, wo eine Spur weggenommen wird, stellen wir fest, dass es eben keine Staus gibt, sondern dass sich die Menschen sehr schnell umstellen und realisieren, dass viel mehr Mobilitätsformen zur Verfügung stehen als nur das Auto.
Räume so gestalten, dass sie Aufenthaltsqualität erhalten
Ein Beispiel für den Versuch der Umwidmung ist die Berliner Friedrichstraße. Und ehrlich gesagt – die Straße war der Horror: Sie war hässlich und hatte keine Aufenthaltsqualität. Das war einfach nur Asphalt, auf den zwei Linien gezogen und drei Stühle gestellt wurden. Die fantasielose Maßnahme zeigt, dass es die Disziplin „Öffentlicher Raum – Mobilitätsräume“ in Deutschland kaum gibt und auch an den Universitäten mitunter nicht gelehrt wird.
Ein Beispiel für eine gelungene Umgestaltung ist das 200 Meter lange, öffentlich geförderte Testfeld des Reallabors Radbahn unter dem Hochbahnviadukt in Berlin-Kreuzberg. Diese Umgestaltung des öffentlichen Raums geht über die Einrichtung eines Radwegs hinaus. Die Anwohner sollten hier nicht das Gefühl haben, dass die Radbahn
nur für schnelle Radfahrer gedacht ist. Es ist ein Raum für alle, auch für die, die nicht Fahrrad fahren – mit Sitzgelegenheiten und Aufenthaltsqualität an einem Ort, wo früher nur Autos parkten. Wir brauchen in Städten das Verständnis, dass der öffentliche Raum allen zugutekommt. Davon profitieren Einzelhandel, Wirtschaft, Bürgerinnen
und Bürger. Letztendlich profitieren auch die Autofahrer.
Welche Rolle spielt die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern bei dieser Umgestaltung?
Keine besonders große Rolle, finde ich. Oft können sich die Menschen gerade im Autoland Deutschland gar nicht vorstellen, wie ein alternatives Verkehrs- und Mobilitätssystem aussehen kann. Menschen können mit den Veränderungen konfrontiert werden. Damit kann im Kleinen angefangen werden, um es dann auszuweiten. Man wird feststellen, dass die Menschen ihr Verhalten ändern werden.
Das Mobilitätsverhalten hat sich schon verändert
In Berlin nimmt der Autoverkehr ab – und trotzdem werden hier immer mehr Pkw zugelassen. Das Auto ist zur Mobilitätsreserve geworden und viele Menschen merken gar nicht, wie sehr sie sich in ihrem Mobilitätsverhalten schon vom Auto entfernt haben. Überall dort, wo man alternative Mobilität zur Verfügung stellt, wo man den öffentlichen Raum verändert, sind die Ergebnisse für die Mobilitätswende extrem positiv. Deshalb müssen Expertinnen und Experten sowie Entscheidungsträger die Räume verändern und die Menschen auf diese Reise mitnehmen.
Interview: Barbara Lücke