Seit Wochen beherrscht das Thema die Medien: Overtourism. In Spanien demonstrieren Einheimische gegen die „Auswüchse des Massentourismus“. Doch auch in Schweizer Tourismusorten wie Luzern oder Interlaken regt sich Widerstand gegen das, was wir Overtourism nennen. Was sagt der renommierte Tourismusprofessor Christian Laesser von der Universität St. Gallen (HSG) dazu?
Tourist go home! Mit Slogans wie diesen gehen seit einigen Wochen vor allem in Spanien Einheimische auf die Straße. Sie wenden sich gegen Overtourism – obwohl dieser alles andere als ein neues Phänomen darstellt. Professor Dr. Christian Laesser, Tourismusforscher an der Universität St. Gallen, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema.
Christian Laesser, Overtourism ist kein neues Phänomen, den gibt es seit Jahrzehnten. Warum protestieren die Menschen ausgerechnet jetzt dagegen?
Sie protestieren ja nicht überall, sondern nur an ganz bestimmten Orten. Blicken wir beispielsweise auf Mallorca. Auf der Insel kommen derzeit alle Kriterien für Overtourism zusammen. Die Flugkapazitäten sind wieder mindestens auf Vor-Corona-Niveau, es legen so viele Kreuzfahrtschiffe an, wie nie zuvor, und zahlreiche Wohnungen und Häuser werden als Ferienunterkünfte genutzt. Mallorca war bereits vor Corona kurz vor diesem Stadium, nun aber ist es erreicht. Insgesamt ist Overtourism ein Phänomen, das sich auf sehr spezielle Hotspots konzentriert. Eben dort, wohin die Menschen wollen und damit die Massen strömen.
Und das stößt auf Unmut bei den Einheimischen…
Tourismus findet im öffentlichen Raum statt, also an den Orten, wo sich auch die Einheimischen tummeln. Damit stehen Urlauber dort in Konkurrenz zu diesen. Hinzu kommt, dass Nutzen und Schaden ungleich verteilt sind. Es scheint, dass vom Tourismus zwar viele profitieren, noch mehr aber leiden unter negativen Faktoren wie Wohnungsnot oder überfüllten Straßen.
Wieso reisen Urlauber dorthin, wo es sowieso schon eng und überfüllt ist? Die Welt ist doch groß…
Menschen zieht es an Attraktionspunkte – die üben gewissermaßen Schwerkraft auf sie aus. Das können sowohl Orte als auch Personen sein. Einer der stärksten Attraktionspunkte derzeit ist Taylor Swift. Viele ihrer Konzerte haben quasi lokalen Overtourism zur Folge. Allerdings gibt dieses Phänomen auch Zuversicht, dass sich die Lage wieder ändern könnte. Denn einerseits streben die Urlauber zwar zu bestimmten attraktiven Destinationen, andererseits verlieren diese an Attraktivität, wenn sie zu überlaufen sind. Hier wägen die Reisenden ab.
Hinzu kommt, dass Menschen aus kollektivistisch geprägten Gesellschaften in der Regel an Orte reisen, an denen zuvor schon Mitmenschen waren. Das erwarten diese im Übrigen auch. Und die Reisenden wollen, dass ihre Angehörigen zu Hause wissen, dass sie an den „richtigen Orten“ waren.
Können sich Overtourism-Hotspots immer wieder ändern?
Einige wie etwa Venedig oder Dubrovnik sind seit Jahrzehnten en vogue, sie leiden dauerhaft unter Overtourism – vor allem, weil sie als Hafenstädte Kreuzfahrtschiffe anziehen. Bei anderen hingegen ist der Zuspruch zeitlich begrenzt. Seit zwei Jahren etwa strömen asiatische Urlauber ins schweizerische Örtchen Iseltwald im Berner Oberland – weil dort auf einem Bootssteg die Schlüsselszene einer koreanischen Netflix-Serie gedreht wurde. Nun hat die Gemeinde gehandelt: Wer auf dem Steg ein Selfie machen will, muss durch ein Drehkreuz und zuvor fünf Franken einwerfen. Seither geht das Ganze gesitteter vor sich.
Ist Filmtourismus ein Treiber für Overtourism?
Ja, Urlauber wollen sehen, wo beliebte Filmszenen gedreht wurden. Ein weiterer wesentlicher Treiber ist natürlich die Instragramisierung. Dadurch wächst die Anziehungskraft der gezeigten Orte rasant an. Das kann aber auch wieder abflauen. Instagram ist wie das Phänomen bei Ameisen: Sie legen vor Ort eine Spur, damit andere Ameisen die Futterquelle – den Attraktionspunkt – finden.
Sie erwähnten das Drehkreuz, das Iseltwald als Mittel gegen Overtourism aufgestellt hat. Wirkt so eine einfache Maßnahme tatsächlich
Tut sie – wenigstens eingeschränkt. Ein anderes gutes Beispiel ist die Lösung, die die Alhambra im spanischen Granada für sich gefunden hat. Sie kontingentiert die Zahl der Eintritte massiv. Wer sie besuchen will, muss viele Monate vorher online reservieren. Damit ist die Alhambra eine Top-Attraktion, die nicht unter Overtourism leidet.
Haben wir die Spitze in Sachen Overtourism eigentlich erreicht? Oder wird sich das Problem verschärfen?
Schwer zu sagen. Einerseits deuten die sinkenden Flugpreise daraufhin, dass wieder mehr Kapazitäten vorhanden sind als Nachfrage. Vor allem bei den US-Amerikanern, die nach Corona in nie gekannter Zahl gereist sind, flacht der Boom ab. Andererseits wachsen die Mittelschichten in China und vor allem in Indien: Menschen, die reisen wollen, und die das nötige Geld dafür haben. Und auch das wird zunächst die klassischen Hotspots betreffen.
Thema Massenproteste. Werden sie dafür sorgen, dass sich das Problem Overtourism von selbst erledigt, weil die Menschen nicht mehr dorthin reisen werden, wo gegen sie protestiert wird?Ich glaube nicht. Menschen reisen ja zu einem Ort, weil sie dort bestimmte Attraktionen sehen wollen, in der Regel die Hauptattraktionen. Das werden sie sich durch nichts und niemanden nehmen lassen.
Aber ist Tourismus in einer Region überhaupt noch durchsetzbar, wenn die Einheimischen ihn gar nicht haben wollen?
Das ist die Millionenfrage! Ich denke, man wird eingreifen müssen, um das Wohlwollen der Einheimischen zu erhalten oder wiederherzustellen. Das kann durch bloße bessere Information der Urlauber geschehen, durch technische Besucherlenkung oder über den Preis. Wo viele Leute hinwollen, dort es ist dann eben teurer. Ein Teil der touristischen Einnahmen sollte an die öffentliche Gemeinschaft gehen, man erkauft sich also deren Goodwill. Allerdings müssen die Einheimischen auch merken, dass sie etwas bekommen – sonst bringt es nichts.
Warum geschieht das nicht alles längst?
Die Lösungen gegen Overtourism liegen auf der Hand. Diejenigen, die viel Geld an Touristen verdienen, sitzen derzeit aber oft noch am längeren Hebel. Und staatliche Eingriffe sind in Demokratien eher unerwünscht, die müsste das Volk dann schon selbst mehrheitlich wollen.
Aber droht dann nicht wirklich ein Flächenbrand der Proteste?
Ich habe den Eindruck, dass das Ganze derzeit auch ein dankbares Medienthema ist; es steht einfach hoch im Kurs. Ich habe Overtourism schon vor über 20 Jahren erlebt, als ich in Melbourne wohnte. Da wurden die Einheimischen bereits in den Straßenbahnen auf ankommende Kreuzfahrtschiffe hingewiesen – um bestimmte Regionen und Tramlinien besser zu meiden. Heute ist es der Bürgermeister von Santori, der dies jüngst getan hat.
Hinzu kommt: Auch Mallorca hat touristisch schon schlechte Zeiten erlebt, weil deutlich weniger Urlauber kamen. Das will dort am Ende doch auch niemand.
Also nichts tun?
Doch, natürlich, aber es bedarf langfristiger Lösungen, etwa eines Kapazitätsmanagements. Es ginge dann darum, den öffentlichen Raum für Touristen zu beschränken, beispielsweise durch weniger Parkplätze in der Hauptsaison. Andere scheinbare Lösungen – Urlaubern etwa zeigen, wo es auch noch schön ist – hatten bislang kaum Erfolg.
Steuern wir 2025 auf einen neuen Overtourism-Höhepunkt zu?
Es könnte sein, dass sich die Situation eher wieder etwas normalisiert. Vor allem die Amerikaner haben bezüglich ihrer internationalen Reisen ein Plateau erreicht, auch bei den Chinesen harzt es noch.
Christian Laesser ist ständiger Dozent mit Titularprofessur für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Tourismus und Dienstleistungsmanagements an der Universität St. Gallen (HSG).
Quelle & Copyright: fvw/Travel Talk. Autor: Oliver Graue.
Dieser Text erschien zuerst auf www.fvw.de.
Bildlegende Hauptfoto: Prof. Christian Laesser. Bilder: Urs Bucher, Appenzeller Zeitung.