Wir befinden uns im Herzen des Theaterdistrikts von London. Am Strand. Wir sind tief eingetaucht in die Geschichte des Hotel Savoy. Wir hören das Klappern von Pferdekutschen, wir treffen auf die berühmten Protagonisten wie den Prinzen von Wales, Oscar Wilde, Nelly Melba, Auguste Escoffier, den Komponisten Arthur Sullivan, Enrico Caruso. Ja, und da war noch einer: César Ritz. Lesen Sie die spannende Geschichte von Ritz im Savoy London (Teil 1).
Jeden Tag um Mitternacht hatte die Nachtschicht in der Küche eine fixe Aufgabe: das Bircher Müsli anzusetzen. Ich saß auf einem Hocker in der Küche und bekam ein Steaksandwich. Es war wieder mal spät geworden. Die Küche (unter Anton Edelmann) lag eine Ebene über dem Eingang des Savoy an der Themse, eine Etage unter der Einfahrt vom Strand. Man erwartete meine späten Besuche schon. Ich war auf der gleichen Etage, nebenan im Archiv. Doch heute war mir der Appetit vergangen. Ich war einfach viel zu aufgeregt. War das, was ich gerade noch im Archiv vor mir hatte, wirklich wahr? Das war eine unglaubliche Geschichte. Eine großartige Story. Ein echter Knüller.
Ich bin ohne Sensationsjournalismus aufgewachsen – und habe es auch so geschafft. Doch wie konnte man diese Schlagzeile vermeiden und trotzdem seriös bleiben?
Sie erinnern sich. Ich schrieb an dieser Stelle zuletzt: „Sie müssen ein Archiv aufbauen!“ Noch mal zur Klarstellung: Archiv ist etwas Organisiertes, keine Rumpelkammer!
Susan Scott, die Archivarin des Hotel Savoy in London des Jahres 2000, wachte über eine Rumpelkammer, die sich Archiv nannte. Als General Manager Michael Shepherd ihr mitteilte, dass ich uneingeschränkten Zugang zu diesem „Archiv“ hätte, schluckte sie tief. „Uneingeschränkt?“, fragte sie. „Wie lange?“ “As long as it takes“, sagte Shepherd.
Dann versanken wir, mein Londoner Kollege Andrew Williamson und ich, in Bergen von Akten. Ein Raum, etwa fünf mal fünf Meter, gut vier Meter hoch, zugepflastert mit meterhohen Metallstellagen. Diese wiederum vollgepackt mit Kartons und Ordnern. Teils beschriftet, teils Überraschungsei. Wir legten los. Jede Stunde mussten wir an die frische Luft und uns die Hände waschen.
Das Archiv, das wurde uns rasch klar, reichte bis vor die Eröffnung des Hotels zurück. Also um 1884. Das waren die Tage des Theater-Impresario Richard D’Oyly Carte, der das Savoy Hotel neben seinem Savoy Theater als moderne und luxuriöse Absteige inszeniert hatte. Heimgekehrt von einer seiner zahlreichen Amerika-Tourneen war er vom Projekt „Grand Hotel“ überzeugt. All diese Details könnten Sie in unserem Buch nachlesen, auf 220 Seiten haben wir einen sehr intimen Einblick in das Entstehen und Leben dieses fantastischen Hauses gebracht. Was uns an diesem Tag in die Hände gefallen war, sprengte allerdings unsere wildeste Vorstellungskraft. In einem auffallend gut verschlossenen Karton bewahrte das Hotel an der Themse ein finsteres Geheimnis.
Beginnen wir ganz am Anfang: Faktum war definitiv, dass Richard D’Oyly Carte mit dem Savoy ein sensationelles Haus auf die Beine gestellt hatte. Doch er war ein Theater-Impresario. Seine Spezialität war, Theaterräume zu füllen. Nicht Hotelbetten und Restaurants. Von beidem hatte das Savoy genug. Die River Terrasse bot über 100 Sitzplätze, die man füllen musste. Der Savoy Grill, der Wintergarten, all das waren F&B-Outlets mit total 500 Sitzplätzen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen High Tea in der Lobby.
Das Hotel – ganz nach amerikanischem Vorbild gestaltet – galt als einsturz- und feuersicher. Erstmals war für ein Hotel rundum eine Stahlkonstruktion gewählt worden. Ein eigenes Kraftwerk erzeugte Strom, eine Tiefenbohrung weit unter das Grundwasser der Themse versorgte das Hotel mit frischem Wasser, das im Innenhof aus einem Springbrunnen sprudelte und geheizt in alle Bäder gepumpt wurde. „Wollen Sie Amphibien beherbergen?“, hatte ein Bauingenieur gefragt, als er 1884 auf einen ersten Blick in die Baupläne sah, dass jedes Zimmer ein Bad und jedes Bad eine Badewanne hatte. Das Victoria Hotel, ebenfalls um 1889 eröffnet, hatte vier Badezimmer für 500 Gäste…
Die Eröffnung war sensationell. Tout London rollte durch die schmale Einfahrt in den Innenhof des neuen Hotels (heute ist dieser Innenhof als Thames Foyer überbaut und eingeglast). Die Begeisterung war groß. Doch D’Oyly Carte kannte als Theatermann die Gefahr des Neun-Tage-Wunders nur allzu gut. Neun Tage ist man neugierig, und stürmt das Neue und Unbekannte, um es zu erforschen, zu beschnüffeln, zu lieben oder – es abzulehnen. Ein Hotel aber war kein Theaterstück für eine Saison. Es musste das ganze Jahr über bespielt werden. Das ganze Jahr über etwas auf seiner Bühne bieten, dass es nirgendwo anders gab. Sonst kam nach der Illusion der ausverschenkten Premiere die Realität des halbleeren Hauses.
Ein Vögelchen aus aristokratischen Kreisen flüsterte D’Oyly Carte, im Hotel National im schweizerischen Luzern arbeite ein gewisser César Ritz als Direktor. Dazu muss man jetzt wissen – und ich zitiere aus den Aufzeichnungen eines Zeitgenossen von Ritz, der ihn im Grand Hotel National beobachtet hatte: „Würde sich uns Herr Cäsar Ritz nicht als Leiter dieses prächtigen Etablissements ausdrücklich vorstellen, man müsste diese feine und vornehme Erscheinung für einen der vornehmsten und distinguiertesten aristokratischen Gäste seines Hotels nehmen. Herr Cäsar Ritz macht den Eindruck eines Cavaliers vom Scheitel bis zur Zehe — von den denkbar feinsten, gesellschaftlichen Formen, die Sprachen aller Kulturnationen vollkommen beherrschend, so dass er den französischen, englischen, russischen, italienischen Gästen wie ein Landsmann erscheint, übt dieser Phönix von einem Hotelier auf Jedermann nach den ersten Minuten einen wahrhaft bestrickenden Eindruck, einen Eindruck, der es, wie gesagt, sehr begreiflich erscheinen läßt, daß die Aristokratie fast ausnahmslos das Grand Hotel National beehrt.“
Mit dieser Reputation tritt Ritz vor D’Oyly Carte. Dieser interessierte sich für den Schweizer, in dessen Tross sich der halbe Hochadel Europas zu befinden schien. Außerdem unterhielt er beste Kontakte zum amerikanischen Geldadel, dem er an der Côte d’Azur, in Baden Baden und eben in Luzern als zuverlässiger Hotelier zur Seite stand. Die Vanderbilts, die Morgans, die Astors, für sie war César Ritz der Ansprechpartner. Ritz, der als Junge aus dem Gasthof Trois Couronnes in Brig entlassen worden war mit den Worten „Junge, für das Gastgewerbe braucht es ein besonders Talent – und du hast das überhaupt nicht“. Egal, Ritz hatte es geschafft.
Der kleingewachsene Mann hatte den Ehrgeiz entwickelt, etwas aus sich zu machen. Er beobachtete seine Klientel. Die feinen Maßanzüge. Das elegante Schuhwerk, nicht einfach genagelt, sondern das Leder mit der Sohle fein verwirkt. Die originellen Hüte aus fein gewalktem Filz. Und die Gesten. Wie zog der Prinz von Wales lässig seine Uhr an der goldenen Kette aus der Gilett-Tasche, wann musste man seine Zigarre anschneiden, ihm Feuer reichen? Der große Dandy Europas, Fashion-Idol des Hochadels und immerhin zukünftiger König Englands, hatte es ihm angetan. Er verfolgte ihn seit der Weltausstellung in Wien 1873. Dann wieder in Paris. Dieser kleine Kellner war immer zur Stelle. Bald war es umgekehrt, und der Prinz von Wales soll gesagt haben: „Wohin Ritz geht, gehe auch ich!“
Ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Erfolges von Ritz war das kulinarische Element. In dem bewegte sich ein gewisser Auguste Escoffier wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Der Prince of Wales fuhr extra nach Monte Carlo, um im Grand Hotel die Spezialitäten des französischen Kochs zu verkosten. Für das Poularde Derby, mit Reis, Trüffel und Gänseleber gefüllt, wäre der dickbäuchige Thronfolger auch zu Fuß hingepilgert. Später sollte er ihm Froschschenkel anbieten. Das brachte den Franzosen den englischen Spitznamen „Froggies“ ein und Escoffier einen schweren Rüffel. Der Prinz von Wales esse alles, aber sicher keine Frösche, liess man ihn wissen.
So entstand langsam das Biotop Ritz. Ritz und Escoffier galten als Power-Duo. Ein komplettes Gastrokonzept. In diesem Umfeld etablierte sich ein Tross talentierter junger Hoteliers, die von Ritz in seinen unterschiedlichsten Hotels eingesetzt wurden. An der Côte d’Azur, in Baden-Baden, in der Schweiz. Und nun lockte also das modernste Hotel Londons.
In den Kurorten des Kontinents war César Ritz auf die Sommersaison beschränkt. Jeder Sommer musste er das Geld für die ruhigen Wintermonate verdienen. London aber würde als Hauptstadt des britischen Empire das ganze Jahr über das Flair einer Metropole bieten. Ritz verhandelte mit Carte beinhart. Für seinen ersten Antrittsbesuch verrechnete er stolze 350 £ (schwer umzurechnen, repräsentiert heute eine Kaufkraft von 100 000 Pfund). Dann spielte er hard to get. Er müsse sich um seine Geschäfte auf dem Kontinent kümmern. Seine Zeit sei limitiert. Also schlug er vor, seinen Mitarbeiter Louis Echenard im Savoy als Direktor zu installieren. 500 £ Jahressalär wäre eine angemessene Entlohnung. Er verheimlichte zunächst, dass Echenard sein Oberkellner war.
Doch Carte wollte Ritz persönlich. „Ich biete ihnen 1000 Pfund pro Jahr.“ Ritz überlegte. Aus diesem Savoy in London könnte er wohl das beste Hotel der Welt machen. Es lag hier an der Themse wie ein strahlender neuer Atlantikliner. Nur ohne Kapitän. Das Angebot war unglaublich großzügig. Auf dem Kontinent wurde für diese Position umgerechnet kaum ein Viertel der Summe bezahlt. Frech, wie er war, pokerte er noch eine Runde weiter: Ritz verlangte, für diese Summe nicht das ganze Jahr, sondern nur sechs Monate in London anwesend sein zu müssen. Weiter forderte er uneingeschränkte Handlungsfreiheit. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte er ja bereits den richtigen Mann im Talon. Louis Echenard. Um die Londoner aus ihren Klubs zu locken und die Damen der Gesellschaft zu aktivieren, zog Ritz den kulinarischen Joker.
Auguste Escoffier müsse mit von der Partie sein. Das würde die Damen mit ihren Ehemännern mobilisieren, in die Restaurants zu gehen. Nach dem Theater, zum Beispiel.
Carte schluckte. Doch er hatte keine Wahl. Er wollte diesen Schweizer Hotelier um jeden Preis haben. Er würde dem Direktorium auch noch verkaufen können, dass dieser August Escoffier ebenfalls mit von der Partie sei. Carte hatte ein untrügliches Gespür für Talent. Auf der Bühne und im Leben. Er engagierte Ritz, gab ihm alle gewünschten Freiheiten und bezahlte, was gefordert wurde. Nun hatte er einen fantastischen Frontman und konnte sich wieder um seine Theaterarbeit kümmern. Oscar Wildes Amerika-Tournee stand an. César Ritz würde mit seiner versnobten Klientel schon richtig umgehen. „Schmeißen Sie ruhig einmal einen raus, wenn er lästig ist,“ gab er Ritz mit auf den Weg. „Aber, Mister Carte, das mache ich sicher nicht. Der Gast, das müssen sie sich merken, der Gast hat immer recht.“
César Ritz, 39 Jahre alt, übersiedelte nach London. Mit ihm seine Frau. Und Echenard, der feinste Weinexperte des Kontinents, Escoffier, schon über 40, der sich weiterhin weigern würde, Englisch zu lernen („Sonst koche ich noch wie sie“), sein treuer Kassier Agostini aus Monte Carlo, und sukzessive ein Rattenschwanz an ergebenen Vasallen. Das Ritz-Biotop breitete sich aus. Dass es zum größten Sumpf der englischen Hotelgeschichte des 19. Jahrhunderts werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen. Es war auch lange genug geheim gehalten worden. Bis zu dieser magischen Nacht eben, in der wir diese eine Box geöffnet hatten, auf der in verblasster Schrift stand: „Strictly confidential“.
Teil 2: Lesen Sie nächste Woche auf Hotel Inside, wie der Hotelmagier César Ritz die Stadt London verzauberte und zehn Jahre lang das Direktorium der Savoy Hotel-Gesellschaft um den Finger wickelte.
Bildlegende Hauptfoto: César und Marie Ritz im Jahr 1893, ein Jahr, bevor sie nach London gingen.